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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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allein von der Frage abhängen, die du stellst. Wie du sie stellst. Wenn du dich fragst, ob deine Frau dich nicht wirklich geliebt hat, sondern einen anderen, wirst du wahrscheinlich eine entsprechende Antwort bekommen. Vielleicht stellst du aber eine ganze andere Frage? Genoss deine Frau einmal vorübergehend die Aufmerksamkeit eines anderen, weil deine nachgelassen hatte? Oder fand sie bei einem anderen etwas, das du gar nicht hast, liebte dich aber so sehr, dass sie dich das niemals spüren lassen wollte? Möglicherweise wollte sie dich einmal verlassen, blieb nur wegen der Kinder? Vielleicht aber auch nicht. Egal was du tust, die Wahrheit wirst du ohnehin nie erfahren. Denn deine Frau ist tot. Selbst wenn du die Männer finden solltest, die die Brief geschrieben haben, sie aufsuchst, sie ausfragst, vielleicht sogar die Briefe deiner Frau zurückforderst, sie bekommst und liest. Selbst dann wirst du nie Gewissheit haben. Denn hat sie immer die Wahrheit gesagt? Hat sie selbst die Wahrheit überhaupt gekannt? In Herzen und Seelen gibt es keine Fakten, Matthew. Es gibt nur Vertrauen und Misstrauen. Also. Ich will nicht wissen, was du denkst, sondern was du tust. Liest du die Briefe?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du weißt, dass sie niemals für deine Augen bestimmt waren. Sie waren ihr Geheimnis. Nichts in ihren Briefen an dich, nichts an ihrem Verhalten hat dich jemals daran zweifeln lassen, dass sie dich aufrichtig geliebt hat und mit dir glücklich war. Also. Liest du die Briefe? Antworte mir.«
    »Es ist also wahr?«, sagte ich. »De Vander stammt aus einer Nazifamilie. Irgendein Verwandter von ihm hat dieses entsetzliche Zeug geschrieben, das David mir gezeigt hat. Und du hast die ganze Zeit davon gewusst.«
    Sie fixierte mich stumm. Aber ich konnte nicht anders.
    »Wovon reden wir hier denn?«, rief ich. »Was ist das überhaupt für ein perfider Vergleich? Liebesbriefe! Verdammt noch mal. Weißt du überhaupt, wovon du sprichst? Was liegt in dieser Bibliothek, Janine?«
    Der Ober kam und stellte das Essen vor uns ab. Keiner von uns rührte sich. Wir schauten uns schweigend an, während der Ober leise kommentierte, was auf unseren Tellern lag. Kaum war er fertig und wieder verschwunden, stand Janine auf, ging zur Garderobe, nahm ihren Mantel und verließ das Lokal. Es ging so schnell, dass ich überhaupt nicht reagieren konnte. Der Ober kam bestürzt zu mir.
    »Verzeihung. Ist etwas nicht in Ordnung?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich betreten. »Meiner Freundin geht es nicht gut. Ich fürchte, sie wird nichts essen können.«
    »Soll ich den Teller warm stellen?«
    »Ja. Das wäre nett. Vielen Dank.«
    Er nahm den Teller und verschwand in der Küche. Ich saß da und versuchte zu essen. Mit Mühe und Not schaffte ich die halbe Portion, verlangte dann nach der Rechnung, entschuldigte mich nochmals und verließ das Lokal.
    Sie hatte nur etwa zwanzig Minuten Vorsprung gehabt. Aber das hatte gereicht. Der Rezeptionist sah mich betreten an. Ich hätte gar nicht nach ihr zu fragen brauchen, tat es aber trotzdem.
    »Madame ist vor zehn Minuten abgereist«, sagte er. »Das hat sie für Sie dagelassen.«
    Er reichte mir ein Buch. Irgendein sperriger Gegenstand lag zwischen den Seiten, aber ein starkes Gummi hielt das Buch geschlossen. Ich nahm es entgegen und setzte mich in einen der Sessel. Shakespeare's Sonnets. Ich entfernte das Gummi und öffnete den ziemlich zerlesenen Band. Zum Vorschein kam die Brosche, die ich ihr geschenkt hatte. Ich strich mit dem Finger über die Seite und die Druckstellen, die das Schmuckstück im Papier hinterlassen hatte. Sonst fand ich keine Nachricht. Es sei denn, das Sonett selbst war als solche gemeint. Es war das einundsiebzigste Sonett. Rechts im Original, links in moderner Schrift. Zwei Zeilen waren mit Bleistift unterstrichen.

    Ich blätterte zum Vorsatz. Der Name des Vorbesitzers stand in grüner Tinte auf der Innenseite des Buchdeckels. David Lavell. Ich stand auf, überquerte die Straße und ging in den Bahnhof hinein. Aber sie war nirgends zu sehen. Weder im Wartesaal noch auf den Bahnsteigen. Ich ging in die Innenstadt und spazierte ziellos umher. Restaurierte Zunfthäuser, Design-und Delikatessenläden wechselten sich ab mit Souvenirshops, Dönerbuden, neonbeleuchteten Obst- und Gemüseläden und verwahrlosten Wohnhäusern, aus deren zum Teil eingefallenen Dächern Bäume herauswuchsen. Die Schäbigkeit des Stadtbildes tat mit wohl. Ich

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