Der gestohlene Abend
Artikel gestoßen? Hatte er Hinweise gehabt? War er von jemandem kontaktiert worden? Jacques De Vander war eine berühmte Persönlichkeit. Wenn er mit der Person identisch war, die diese Artikel verfasst hatte, wie hatte er dann überhaupt nach dem Krieg in die USA emigrieren können? War er nach der Befreiung untergetaucht? Er musste doch bekannt und verhasst gewesen sein.
Das Taxi hielt vor dem Centre d'Etudes et de Documentation -Guerre et Societes contemporaines (CEGES), das in einem Gebäude aus den Zwanzigerjahren untergebracht war. Der vierstöckige Bau hatte schon bessere Zeiten gesehen. Im Innern schien die Zeit allerdings stehen geblieben zu sein. Die Eingangshalle aus dunklem Holz, Chrom und Glas war in perfektem Art-Deco-Stil gehalten. Es fehlten nur schwarze Bakelit-Telefone, um die Illusion perfekt zu machen. Die Empfangsdame mit Dutt und Hornbrille hätte aus Kafkas Zeiten stammen können. Sie registrierte meine Daten, nahm den symbolischen Betrag von dreißig belgischen Francs für meinen Leserausweis entgegen, prüfte die Signatur auf dem Abschnitt, den ich in der Bibliothek gefunden hatte und übertrug die Bestellnummer auf einen neuen Bestellschein. Der Kontrollabschnitt, den ich zurückbekam, sah genauso aus, wie der, den ich gefunden hatte.
Der Lesesaal befand sich im ersten Stock. Zehn Minuten später lag die Bestellung vor mir auf dem Tisch. Es waren die gleichen Jahrgänge, die ich mir schon in der königlichen Bibliothek angesehen hatte, aber diese Sammlung war umfänglicher und enthielt noch weitaus mehr Sonderausgaben und Beilagen. Bereits ein wenig mit dem Blatt vertraut, musste ich nicht lange suchen, bis ich auf weitere Artikel von Jacques De Vander stieß. Obwohl ich mich allmählich an die Rhetorik gewöhnt hatte, mit der De Vander die Naziideologie zu einer seriösen Gesellschaftsphilosophie hochstilisierte, war ich dennoch nicht vorbereitet auf das, was am 4. März 1941 in einer Sonderbeilage unter dem Titel Die Juden und wir. Die kulturellen Aspekte zu lesen war. Eine ganze Seite war dem Thema gewidmet. Leon van Huffei, von dem ich ja schon Kostproben kannte, hatte einen hetzerischen Aufmacher geschrieben, der nachwies, dass die Juden nicht Opfer rassistischer Verleumdung, sondern ihrerseits die rassistischste Rasse überhaupt seien und daher weder integriert noch assimiliert werden könnten. Zwei Fotos rahmten den Artikel ein: links ein Unbehagen einflößendes Porträt eines drohend auf den Leser herabblickenden alten Mannes, und rechts ein mehr tierische als menschliche Züge aufweisendes, von verzerrter Mimik entstelltes, bärtiges Gesicht.
Der Artikel darunter befasste sich mit den sogenannten Folgen der jüdischen Malerei. Zwei Gemälde von Picasso dienten dem Nachweis, dass von jüdischer Malerei zwar keine Rede sein könne, die von Juden dominierte Kunstkritik jedoch an der Verjudung und Entartung der modernen Kunst schuld sei. Mein Blick wanderte zu den nächsten Artikeln. Eine jüdische Lehre: Der Freudianismus. Und daneben: Die Juden in der zeitgenössischen Literatur. Von Jacques De Vander. Ich begann zu lesen.
Der vulgäre Antisemitismus betrachtet die kulturellen Erscheinungen der Nachkriegszeit (nach dem Krieg 1914-18) gern als degeneriert und dekadent, da sie verjudet seien. Auch die Literatur ist diesem lapidaren Urteil nicht entgangen; es hat ausgereicht, hinter latinisierten Pseudonymen einige jüdische Schriftsteller zu entdecken, um die gesamte zeitgenössische Produktion als verschmutzt und schädlich zu betrachten. Die Juden selbst haben den Ruhm für sich in Anspruch genommen, die führenden Köpfe der literarischen Bewegungen zu sein, die unsere Epoche kennzeichnen. Da die Juden seit 1920 tatsächlich einen wesentlichen Anteil an der künstlichen und chaotischen Existenz Europas hatten, verdiente es ein Roman, der in dieser Atmosphäre entstand, bis zu einem gewissen Punkt durchaus, als verjudet bezeichnet zu werden.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus...
Ich setzte meinen Stift ab und las ohne mitzuschreiben weiter. Die Wirklichkeit sah anders aus? Ja. Schlimmer. Wie der Autor in seinem neutral-belehrenden Ton mit jeder Nuancierung des sogenannten vulgären Antisemitismus (gab es denn auch einen feinen?) in immer tiefere Schichten seines Rassenwahns vordrang! Die zeitgenössische Literatur sei keineswegs jüdisch verseucht, argumentierte er. Jüdische Schriftsteller seien immer nur zweitrangig gewesen, was für die westlichen Intellektuellen eine
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