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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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in ganz Europa eigentlich nur noch eine einzige Stimme: die von Winston Churchill. Erst 1942, als der Umschwung absehbar war, stieg De Vander wieder aus. Die Amerikaner hatten in Afrika die Wende erzwungen. Hitlers Russlandfeldzug war verloren. Ein Kollege von De Vander war an einer Straßenbahnhaltestelle in Brüssel von Widerstandskämpfern erschossen worden. Er hatte immer ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Er zog nach Antwerpen und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende damit, Moby Dick zu übersetzen.«
    »Und nach dem Krieg hat man ihn einfach in Ruhe gelassen? Keine Anklage wegen Kollaboration?«
    Alignon schüttelte den Kopf.
    »Nein. Es gab eine Untersuchung, aber sie ließen ihn laufen. Opportunismus ist nun mal kein Kriegsverbrechen. Die Untersuchungsrichter werden De Vander schon richtig eingeschätzt haben. Ein intellektueller Mitläufer, der Naziparolen nachgebetet hat, während man die jüdische Bevölkerung Belgiens bereits waggonweise in die Vernichtungslager transportierte. Persönlich hatte er überhaupt nichts gegen Juden. Er soll sogar einmal ein jüdisches Paar, das von der Ausgangssperre überrascht wurde, für eine Nacht in seinem Haus beherbergt haben. Er war einfach gewissenlos, im Guten wie im Schlechten. Ihm war alles ein exercice de style, wenn Sie so wollen. Hauptsache, es hat ihm genützt. Insofern gehörte er eigentlich zur schlimmsten Sorte, zu denen, die sich aus allem i herausreden können. Er hat ja nur laut nachgedacht. Er hat ! die Juden nicht in die Waggons getrieben. Er hat nur Überlegungen darüber angestellt, ob das Verschwinden der Juden für die europäische Kultur ein großer Verlust wäre. Man wird doch noch darüber nachdenken dürfen.«
    Da ich zu keiner Erwiderung fähig war, fuhr er nach einer kurzen Pause fort.
    »Sein Onkel war ein anderes Kaliber. Ihm wollte man ernsthaft den Prozess machen. Aber Hendrik De Vander hat sich rechtzeitig in die Schweiz abgesetzt und ist Anfang der Fünfzigerjahre bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wahrscheinlich war es Selbstmord.«
    Er verstummte und legte den Kopf schief, als habe er den Eindruck gewonnen, ich hörte nicht mehr so recht zu, was überhaupt nicht der Fall war. Aber ich musste die ganze Zeit über an David denken. War er möglicherweise von Marian auf diese Sache angesetzt worden? Hatte sie davon gewusst und beschlossen, dass es an der Zeit war, De Vanders Vergangenheit publik zu machen? Hatte De Vander vor seinem Tod Marian gegenüber eine Art Geständnis abgelegt? Wie musste das auf David gewirkt haben? Sein Lehrer war in jungen Jahren ein Hitlerverehrer und Antisemit gewesen. Der Prediger der Geschichtslosigkeit der Literatur hatte selbst eine Geschichte, die einem den Atem verschlug. Warum hatte David die Texte nicht sofort veröffentlicht oder zumindest einen Artikel über seinen Fund geschrieben? Die Nachricht wäre wie eine Bombe einschlagen. Ausgerechnet De Vander, der nicht müde geworden war zu wiederholen, biografisches Material sei völlig wertlos für die Interpretation von Texten. Ich dachte an den Brief, den David an den Journalisten geschrieben hatte. Warum hatte er fast ein halbes Jahr lang geschwiegen?
    Ich saß fast eine Stunde in Alignons Büro und lauschte seinen Ausführungen. Irgendwann kam er wieder auf David zu sprechen, dem er all diese Dinge letztes Jahr im August auch erzählt habe. Er fragte sehr direkt nach ihm. Ob ich am gleichen Institut wie er studierte. Ich konnte nicht länger um die Sache herumreden. Also erzählte ich ihm, was geschehen war. Von einem Augenblick zum anderen waren unsere Rollen vertauscht.
    »Verbrannt?«, rief er erschrocken.
    »Verbrannt, erstickt. Ja. Er hat im De-Vander-Archiv der Universitätsbibliothek Feuer gelegt und ist dabei ums Leben gekommen. Er hat dort gearbeitet. Als Assistent.«
    Alignon unternahm mehrere Anläufe, etwas zu erwidern, ließ es aber sein. Ich konnte mir vorstellen, was ihm durch den Kopf ging.
    »Furchtbar. Einfach furchtbar«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Ich habe mich sehr gut mit ihm unterhalten. Er saß genau da, wo Sie jetzt sitzen.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, bevor er hinzufügte: »Verstehen kann ich es. Manchmal, wenn man sich das alles vergegenwärtigt, möchte man einfach nur, dass es verschwindet, dass es nicht so war, wie es war.«
    Nach einer kurzen Pause stand ich auf.
    »Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.«
    Auch er erhob sich.
    »Keine

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