Der gestohlene Abend
nachgefragt. Jedenfalls nicht bei uns.«
»Haben Sie dafür Beweise?«
»Sicher. Eine Kopie von De Vanders Rechtfertigungsschreiben an den Dekan von Harvard liegt bei uns im Archiv. Aber es kamen damals keine weiteren Nachfragen. Man wollte es wohl lieber nicht so genau wissen.«
»Weiß man, wer De Vander angezeigt hat?«
»Nein. Aber wir vermuten, dass es jemand aus seiner Familie gewesen ist. Oder jemand aus der Familie seiner Frau.«
»Er war verheiratet?«
Alignon zog die Augenbrauen hoch.
»Jacques De Vander war ein Schwindler«, sagte er. »Er hat Belgien vor allem deshalb verlassen, weil er bankrott war. Nach dem Krieg hat er mit geliehenem Geld einen Verlag gegründet, der bald pleiteging. Seinen Vater, der für ihn gebürgt hatte, hat er auf den Schulden sitzen lassen und ist in die USA gegangen. Seine Frau und seine drei Kinder hat er nach Argentinien geschickt. Seine Frau hatte dort Familie. Als De Vander nach einem Jahr eine Vertretungsstelle an einem College bekam, schwängerte er im ersten Semester eine seiner Studentinnen und heiratete sie, was natürlich praktisch war wegen der Aufenthaltsgenehmigung. Als seine Ehefrau mit den drei Kindern in New York auftauchte, hat er sie mit dieser Situation konfrontiert. De Vander zwang sie zur Scheidung und bot an, im Tausch dafür die Kinder zu unterstützen. Sie willigte ein, und ein Notar setzte eine entsprechende Vereinbarung auf. De Vander nahm den ältesten der drei Söhne zu sich und verschwand. Seine Frau hörte elf Monate lang nichts von ihm und bekam auch kein Geld. Sie saß mittellos und krank in einem fremden Land fest. Die Eltern in Argentinien brauchten ihre Unterstützung ebenso wie ihre beiden kleineren Kinder. De Vander konnte damit rechnen, dass sie irgendwann aufgeben und zurückfahren würde. Er entzog sich seinen Pflichten einfach dadurch, dass er kaum erreichbar und nicht aufzufinden war. Seinen Sohn gab er den Eltern seiner amerikanischen Frau in Pflege. Es waren eben schwierige Zeiten. Jeder musste zusehen, wo er blieb.«
Ich sah in an. Er lächelte wieder und hob seine Hände.
»Ihr Kollege hat mich letztes Jahr genauso angeschaut. Was glauben Sie, wie viele Biografien dieser Art es gibt. Ist Amerika nicht das Land, wo man sich neu erfinden kann? Viele haben das getan. Aber nur wenige hatten dabei so viel Erfolg wie Jacques De Vander. Ich verstehe nichts von seiner Arbeit. Was ich in der Presse über ihn gelesen habe, ist allerdings beeindruckend.«
»In den USA ist er vermutlich der einflussreichste Literaturwissenschaftler der Gegenwart.«
»Dann hat er wenigstens etwas im Leben richtig gemacht. Wenigstens in der Literatur.«
»Aber diese Artikel...«
Alignon faltete seine Hände wieder.
»De Vander glaubte an Hitler. Sicher stand er auch unter dem Einfluss seines Onkels. Henri De Vander war ein überzeugter und prominenter Faschist. Für diese Leute war Hitler die Erlösung. Halb Europa stand unter dem Hakenkreuz, und es gab keinen Grund, zu glauben, dass sich das auf absehbare Zeit ändern würde. Kein Mensch hatte damit gerechnet, dass Belgien und vor allem Frankreich so rasch kapitulieren würden. Die USA schauten zu. England war auf dem Kontinent geschlagen. Viele Intellektuelle jubelten insgeheim oder offen darüber, dass endlich Schluss war mit Dekadenz und Demokratie. Jacques De Vander bekam die Gelegenheit, als Literaturkritiker für die größte belgische Zeitung zu schreiben. In seiner Naivität griff er zu.«
»Was ich gelesen habe, klingt überhaupt nicht naiv«, entgegnete ich. »Es klingt nach überzeugtem Antisemitismus und Nationalsozialismus.«
»De Vander hatte überhaupt keine Überzeugungen«, erwiderte Alignon. »Er entsprach einem bestimmten Typus des Intellektuellen, der damals recht häufig war. Er war ein gebildeter und hochintelligenter Mensch ohne jegliche moralische Grundsätze. Er kokettierte sogar damit. Man nannte das damals moralische Einsamkeit, ein besonders menschenverachtender Strang einer weitverbreiteten geistigen Strömung, die man auch Nihilismus nennt. Die Leute, die De Vander gekannt haben, sagen alle das Gleiche. Ihn reizte an einem Disput immer nur, recht zu behalten oder die Gegenseite so weit in Widersprüche zu verwickeln, dass er als Sieger dastand. Ansonsten war er eben ein eiskalter Opportunist. Ein zynischer Charmeur, wenn Sie so wollen. Er begann seine Mitarbeit am Soir Vole im Dezember 1940. Gegen Hitlers Endsieg und den Untergang der Zivilisation erhob sich damals
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