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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Ursache. Was werden Sie jetzt tun? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich. »Aber ich habe leider wenig Zeit. Ich fliege morgen schon zurück in die Staaten. Allerdings wird sich Hillcrest sicher bald sehr für Ihr Archiv und den Soir Vole interessieren. Ich war bestimmt nicht der Letzte, dem Sie diese Geschichte erzählen müssen.«
    Er hob die Hände. »Ich erzähle sie jedem, der sie hören will. Und Ihre Kollegen können gern herkommen und unser Archiv benutzen. Für den Soir brauchen Sie allerdings nicht so weit zu fahren. Stanford hat alles auf Mikrofiche. Das Hoover Institut verfügt über eine komplette Sammlung der relevanten Jahrgänge.«
    Stanford hatte diese Artikel auch? Und niemand hatte jemals darüber geschrieben?

Kapitel 58
    Die Meldung stand nicht irgendwo, sondern auf Seite eins der New York Times. Das gleiche Foto, das auch in Marians Büro hing, war neben den beiden Spalten abgebildet. Ich las den Artikel im Flughafen von Chicago, während ich auf meinen Anschlussflug nach Los Angeles wartete.
    Yale-Professor schrieb für Nazi-Zeitung! Von Roger Lehman
    Ein die akademische Welt schockierender Zufallsfund hat enthüllt, dass ein Professor aus Yale, der als einer der einflussreichsten Intellektuellen seiner Generation gilt, während des Zweiten Weltkriegs für eine antisemitische und nazifreundliche Zeitung in Belgien geschrieben hat.
    Jacques De Vander, der 1983 im Alter von vierundsechzig Jahren gestorben ist, gilt als Begründer einer umstrittenen Sprach- und Literaturtheorie, für die ihn manche als einen der größten Denker seines Zeitalters betrachten.
    Nun sind Artikel aufgetaucht, die Jacques De Vander zwischen 1941 und 1942 in der belgischen Tageszeitung Le Soir, einer pro-nationalsozialistischen Zeitung, veröffentlicht hat. In einem dieser Artikel diskutiert der junge Jacques De Vander die Frage, ob Juden die moderne Literatur »verschmutzt« haben.
    Diese bisher unbekannten Schriften eines Mannes, der sowohl in Yale als auch ganz allgemein höchsten Respekt genoss, haben die akademische Welt erschüttert. Die aufgefundenen Artikel könnten eine bereits seit längerer Zeit schwelende Kontroverse um die ethischen Aspekte von Professor De Vanders Philosophie weiter entfachen, sagten einige Kollegen des Verstorbenen. De Vanders Theorie betrachtet Sprache als ein unzuverlässiges und letztlich unkontrollierbares Medium. Manche Wissenschaftler kritisieren, dass durch solch eine Sichtweise moralische Urteile unmöglich werden.
    Anlässlich einer Gedächtnisfeier wurde Professor De Vander noch vor wenigen Monaten als »humanitäre Lichtgestalt in Leben und Lehre« gewürdigt, nach dessen Hinscheiden »nichts wieder ganz so sein wird wie zuvor.«
    »Es war schmerzvoll und traurig, diese Schriften lesen zu müssen«, sagte Jeffrey Holcomb, ein enger Freund des Verstorbenen, heute Direktor des Instituts für neue Ästhetische Theorie (INAT) an der Hillcrest University. »Sie passen so überhaupt nicht zu der Person, die ich gekannt habe.«
    Marian Candall-Carruthers, ebenfalls Professorin in Hillcrest und Direktorin des dort im Aufbau befindlichen De-Vander-Archivs, beschrieb ihren ehemaligen Lehrer als » vorurteilsfreien Menschen, dessen Leben von hohen moralischen Normen geprägt war. «
    Ich rechnete zurück. Am Freitag waren Janine und ich am späten Vormittag in Brüssel angekommen. Gegen halb zwölf waren wir im Hotel gewesen. Hatte Janine Marian von dort aus angerufen und ihr erzählt, was ich vorhatte? Und hatte Marian dann unverzüglich die Presse informiert? Dass dieser Roger Lehman die gleiche Spur wie ich verfolgt und die Artikel in Stanford ausgegraben hatte, schien mir sehr unwahrscheinlich. Marian war an die Presse gegangen. Aber warum ausgerechnet jetzt? Wegen mir? Oder hatte sie wirklich nichts von der Sache gewusst?
    »Welche Dimensionen dieser Fund für De Vanders Schüler hat, verdeutlicht das tragische Schicksal des Studenten David Lavell, der die kompromittierenden Schriften letztes Jahr entdeckt hat. Es gilt als sicher, dass der sechsundzwan-zigjährige Doktorand vor sechs Wochen im De-Vander-Archiv Feuer gelegt hat. Der junge Mann fand bei dem Brandanschlag, dem auch viele nachgelassene Schriften De Vanders zum Opfer fielen, den Tod. Bei der Durchsuchung von Lavells persönlichen Gegenständen stieß die Polizei auf Kopien von De Vanders Artikeln in französischer und niederländischer Sprache, deren Inhalt und Brisanz

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