Der gestohlene Abend
nächstes Semester anbietet. Ich meine, wie soll ich in ein paar Stunden ...«
Er grinste. »Ich habe ein wenig Vorarbeit für Sie geleistet. Sie haben doch in diesem Trimester ein Oberseminar bei Ruth Angerston gemacht. Über Kleist, wenn ich mich nicht irre, oder? »
»Ja.«
»Na also. Marian wird ein Seminar Über das Marionettentheater halten. Den Aufsatz kennen Sie doch bestimmt, oder?«
»Ja.«
Das konnte ich mit gutem Gewissen sagen. Es war sogar einer meiner Lieblingstexte von Kleist.
»Na also. Damit sind Sie wahrscheinlich der Einzige in Marians Kurs, der den Text im Original lesen kann. Marian kann Deutsch zwar einigermaßen lesen, aber von den Studenten ist dazu wohl kein Einziger in der Lage. Das habe ich auch Billings erklärt.«
»Sie waren schon bei Billings?«
»Sicher. Ich habe ihn gefragt, ob es von Hillcrest nicht äußerst dumm wäre, einen motivierten Studenten deutscher Muttersprache von einem Seminar fernzuhalten, in dem es um einen der schwierigsten Texte der deutschen Romantik geht. Kann so ein Seminar ohne mindestens einen Muttersprachler überhaupt stattfinden? Das musste sogar so jemand wie Billings einsehen. Sie bekommen hier ohnehin keine gültigen Credits. Die Universität braucht Sie nur zu dulden, kann also nur gewinnen. Sie kosten uns keinen Cent, Matthew, und wir können umsonst von Ihnen profitieren. Wo ist also das Problem? Es gibt nur eines: Marian. Aber was sollte sie dagegen haben, wenn statt sechs nun sieben Studenten im Raum sitzen, von denen dann wenigstens einer die Originalsprache der Texte beherrscht? Die ganze frühromantische Theorie kommt ja auch noch dazu, also Schillers naive und sentimentalische Dichtung, Schlegels Studium-Aufsatz und so weiter. Das kennen Sie ja wohl alles, oder?«
Ich nickte, obwohl ich zugleich das Bedürfnis hatte, den Kopf zu schütteln. Das Ergebnis war eine Art hilfloses Kopfkreisen, das Barstow zum Lachen brachte.
»Beim Bluffen müssen Sie noch besser werden, Matthew. Aber nur Mut, Sie haben ja bis morgen Zeit. Sie haben etwas, das für Marian interessant sein könnte. Also verkaufen Sie es ihr. Das Angebot habe ich schon gemacht, Sie müssen ihr morgen nur zeigen, dass Sie das Potenzial haben, in absehbarer Zeit zu liefern. Also. Es ist jetzt kurz vor elf. Morgen Nachmittag um halb fünf ist Ihr Termin. Mit Ihren Hausarbeiten und Klausuren sind Sie fertig. Das gibt Ihnen jede Menge Zeit. Was machen Sie noch hier? Viel Glück!«
Einen Augenblick lang hasste ich ihn. Warum hatte er mir das verdammt noch mal nicht früher gesagt. Das war doch Wahnsinn. Ein Tag, um mich vorzubereiten. Und ich wusste nicht einmal, worauf.
Kapitel 19
Ich ging sofort in die Bibliothek. Hatte Marian über Kleist geschrieben? Wie sollte ich nur vorgehen? Das Marionettentheater, Schiller und Schlegel. Damit würde ich beginnen und schauen, wie weit ich überhaupt kam.
Ich brauchte Stunden, bis ich einen knappen, aber hoffentlich repräsentativen Querschnitt der Ansätze und Lesarten recherchiert und die Texte auf meinen Tisch versammelt hatte.
Jetzt musste ich das alles querlesen und ordnen. Als ich ein erstes Inventar der wichtigsten Forschungsmeinungen erstellt hatte, war es schon zehn Uhr abends. War Über das Marionettentheater eine Reaktion auf Kant oder sogar eine Widerlegung? War der Text ironisch gemeint oder eine spirituelle Autobiografie Kleists, wie die meisten annahmen? Rettung durch die Kunst? Wie sollte man den Schluss deuten? Als Hoffnung? Oder als Gipfel der Hoffnungslosigkeit? Beides war möglich. Wie immer bei Kleist fand jeder, was er suchte. Alles an ihm war gespickt mit unauflöslichen Widersprüchen. Das Glück ist stumm, hatte er in seinem ersten Stück geschrieben. Und sich am Ende am kleinen Wannsee in den Mund geschossen.
Meine Augen taten mir weh, und ich hatte Hunger. Ein Stück Pizza und eine Cola versetzten mich vorübergehend wieder in einen wacheren Zustand, aber gegen halb zwölf wurde es kritisch. Immer wieder verschwammen mir die Zeilen vor den Augen. Doch die Aufsätze von Schiller und Schlegel musste ich noch schaffen. Überall wurde auf sie Bezug genommen. Ich hatte die Texte in Berlin schon auf Literaturlisten stehen sehen, aber die diesbezüglichen Seminare am Ende nicht besucht. So war ich nie dazu gekommen, sie zu lesen. Was für ein peinliches Versäumnis! Im Grunde hatte Billings völlig recht gehabt. Mir fehlten sämtliche Grundlagen. Wie sollte ich das alles in einer Nacht nachholen?
Gegen Mitternacht
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