Der gestohlene Abend
Doris hinüber, die voller Verachtung wegsah. Winfried drehte die Augen zum Himmel, sagte aber nichts. Im Grunde war es ein echter Klassenkampf. Doris, ehemalige RAF-Sympathisantin, Marxistin, Feministin, gegen Gerda, Model oder Trophy-Wife, deren Mann irgendwelche Computernetzwerke erfunden hatte und in Kalifornien in kürzester Zeit steinreich geworden war. Gerda fuhr einen offenen Jaguar und führte nur aus Spaß das Studium fort, das sie in Deutschland abgebrochen hatte, als ihr Mann nach Amerika gegangen war. Sie sah klasse aus, war immer gut vorbereitet, nahm das Studium genauso ernst wie wir, ging aber mit ebenso großem Vergnügen segeln oder flog über das Wochenende auch mal nach Hawaii, wenn ihr oder ihrem Mann danach war. Sie war die Einzige hier, die für ihr Studium bezahlte. Eine untypische Erscheinung war sie also durchaus. Aber ich fand sie sympathisch. Jedenfalls sympathischer als Doris.
Ruths Frage schwebte noch immer im Raum. Da niemand antwortete, tat sie es selbst, auf die unvergleichliche Art, die ich an ihr so mochte.
»Sie beide verrennen sich allein in das irdische Geheimnis dieser Novelle. Hat er? Hat sie? War es Gewalt? War es Lust? Sie schlagen sich im Grunde nur auf die helle oder dunkle Seite der menschlichen Triebe. Was dabei völlig aus dem Blick zu geraten droht ist, dass die Novelle die Frage nach diesem irdischen Geheimnis nur stellt, um die Antwort auf ein göttliches Geheimnis zu suchen. Wie nämlich aus irdischen Trieben heilige Liebe entstehen soll.«
Am nächsten Morgen schwamm Janine bereits ihre Bahnen, als ich am Pool eintraf. Ich beeilte mich, ins Wasser zu kommen, holte zu ihr auf, überholte sie und erwartete sie am sonnigen Beckenrand. Sie hielt an, atmete schwer und musterte mich stumm. Dann schwamm sie einfach weiter. Kurz darauf trafen weitere Schwimmer ein. Ich zog mein Programm durch, um den Strom widersprüchlicher Gedanken in meinem Kopf abzustellen. Sie hörte früher auf als ich. Ich hatte mittlerweile eingesehen, dass das mit dem Kuss eine Augenblicksverirrung gewesen sein musste. Doch sie wartete am Ausgang auf mich. Wir gingen nebeneinander her zu Pinewood Hall. Sie stellte ein paar Fragen zu dem Film, den wir vor drei Tagen gesehen hatten. Ob Berlin wirklich so schäbig sei, so kaputt. Wie man das aushielt, mit so einer Mauer zu leben? Wir berührten uns nicht. Kurz vor dem Eingang zur Cafeteria verabschiedete sie sich und behauptete, noch etwas erledigen zu müssen. Mir war ein wenig schlecht. Ich hatte Magenschmerzen. Ich dachte immer nur an den Kuss im Auto, den Duft ihrer Haut, das Gefühl ihrer Fingerspitzen auf meiner Handfläche.
In Goldensons Seminar sah sie kein einziges Mal zu mir hin. Es war die letzte Sitzung vor dem Klausurtermin und man durfte Fragen stellen. Dann lief Das Schlangenei von Ingmar Bergmann. Bei der Szene mit dem Babygeschrei wurde mir wieder schlecht. Janine schlich noch vor Ende des Films aus dem Raum.
Am nächsten Morgen sah ich sie wieder. Diesmal waren wir allein im Pool. Auch als wir mit dem Schwimmen fertig waren, war außer uns niemand da. Ich folgte ihr in ihre Umkleidekabine. Wir schlössen die Tür. Wir küssten uns, erst lange und zärtlich, dann gierig. Ich zog die Träger ihres Badeanzugs herunter und bedeckte ihre Brüste mit Küssen. Sie hob die Arme. Ich spürte ihre Brustwarzen hart werden und saugte zärtlich daran. Sie stöhnte leise und schob meinen Kopf zu ihrem Schoß hinab. Ich ging in die Knie und zog ihren Badeanzug ganz herunter. Sie spreizte ihre Beine, indem sie ihren rechten Fuß auf die Bank stellte, umfasste zärtlich meinen Kopf und drückte ihn an sich. Sie hielt es nicht lange aus. Sie zog mich wieder zu sich hoch, riss meine Badehose herunter und klammerte sich an mich. Wir liebten uns hastig, gierig, aber fast lautlos. Es vollzog sich wie etwas Unvermeidliches. Sie seufzte die ganze Zeit leise. Als sie kam, wurde das Seufzen ein wenig lauter, behielt jedoch zugleich etwas sehr Weiches, Zartes, wie der Ruf von einem kleinen Vogel. Mir zitterten die Beine. Am Ende kniete ich wieder vor ihr. Sie saß auf der Bank der Umkleide, mein Kopf ruhte auf ihren Schenkeln, meine Kniescheiben pressten sich schmerzhaft gegen den rauen Belag der Schwimmhalle.
Sie war noch immer ein wenig atemlos, während sie den ersten Satz sprach: »Ich werde David nicht verlassen, OK? Ich verstehe nicht, was hier läuft, aber du musst das akzeptieren. Einverstanden?«
»Ja«, antwortete ich leise. Was hätte ich
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