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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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beschloss, zwei Strandtücher aus dem Auto zu holen, was uns vermutlich davor bewahrte, den Film mit einer Lungenentzündung zu verlassen. Man hätte glauben können, der Kinobesitzer habe den Ehrgeiz gehabt, die Raumtemperatur dem Drehort anzupassen. Es waren kaum Zuschauer da. Wir saßen allein in unserer Reihe, in Strandtücher gehüllt, die Augen auf die Leinwand geheftet. Berlin war da zu sehen, das Berlin, das ich kannte. Die meisten Schauplätze waren mir so vertraut, dass ich die Straßennamen hätte nennen können. Vielleicht kam ich deshalb nicht so recht in die Geschichte hinein. Dabei gefiel mir die Grundidee: Dass es den Engeln wohl langweilig war in ihrer ewigen Zuschauerrolle und dass sie sich nach dem Leben sehnten. Leider glückte dem Film der Sprung ins Leben ebenso wenig wie den Figuren, auch wenn er auf halber Strecke farbig wurde, nachdem Bruno Ganz die Seiten gewechselt hatte. Je länger der Film dauerte, desto bedrückender fand ich ihn. Dennoch stimmte er mich ein wenig nostalgisch. Die Schäbigkeit der Stadt, die Tristesse des Lebens entlang der Mauer. Ich konnte die Bilder auf der Leinwand buchstäblich riechen. Nur was die Erzählstimme vortrug, war unerträglich. Durch die englischen Untertitel, die hilflos versuchten, diesen Edelkitsch zu übersetzen, wurde das noch augenfälliger. Janine blickte manchmal mit gerunzelter Stirn zu mir herüber, aber mir fiel nichts ein, was ich in zwei Sätzen dazu hätte sagen sollen. Also schwieg ich.
    Außerdem waren da unsere Hände. Schon deshalb werde ich diesen Film nie vergessen. Otto Sander geisterte gerade durch die Staatsbibliothek und stand neben einem Tisch, an dem ich selbst schon einmal gesessen hatte. Da spürte ich sie. Erst berührten sich nur unsere Handrücken. Dann, nach einer Weile, vergruben sich unsere Finger ineinander. Kurz vor dem Ende lösten unsere Hände sich wieder. Im Auto küssten wir uns. Als ich versuchte, sie zu streicheln, schob sie meine Hand sanft, aber bestimmt zur Seite. »Ich muss nach Hause«, sagte sie, startet den Motor und fuhr los. Als wir zwanzig Minuten später vor meinem Haus anhielten, hatten wir kaum gesprochen. Sie reichte mir zum Abschied lediglich die Hand. Dann fuhr sie davon.
    Die nächsten zwei Tage war sie wieder verschwunden. Das heißt: Sie war überall, nur konnte sie außer mir niemand sehen. An jeder Ecke auf dem Campus kam sie mir entgegen, saß an jedem Tisch und spazierte sogar mitten durch Ruth Angerstons Kleist-Seminar. Dort küsste sie mich leidenschaftlich und presste ihren Körper gegen meinen, während Gerda und Doris darüber stritten, ob die Schlüsselszene in der Marquise von O... nun eine Vergewaltigungsszene sei oder nicht. Erst als Ruth in die Diskussion eingriff, setzte meine Tagträumerei kurzzeitig aus.
    »Warum reduzieren Sie diese Szene auf eine so banale Frage?«, fragte sie die beiden.
    »Was heißt hier banal«, rief Doris aufgebracht. »Der Graf hat die Marquise während einer Ohnmacht geschwängert...«
    Doris war zur allgemeinen Überraschung zwei Wochen nach Trimesterbeginn auch im Kleist-Seminar aufgetaucht. Die Verhandlungen mit dem College in Columbus waren in letzter Minute gescheitert. Hillcrest hatte ihren Hilfskraftvertrag noch einmal verlängert, Gerüchten zufolge auf Betreiben von Ruth, die für solche Rettungsaktionen bekannt war. Da Doris an einem Kleist-Buch arbeitete, nahm sie nun auch am Seminar teil. Ich mochte sie nicht besonders. Sie war eine feministische Kampfhenne. Wie schon mehrfach zuvor drehte sich die ganze Diskussion gar nicht um den Text, sondern um ihre Abneigung gegen Gerda, die andere deutsche Frau im Seminar. Außer Winfried und mir saßen noch drei amerikanische Studenten im Raum, die sich jedoch bei den auf Deutsch geführten Diskussionen zurückhielten.
    »In Ohnmacht! Schamlose Posse«, zitierte Gerda jetzt noch einmal Kleists eigenes Epigramm, mit dem er sich damals über seine Kritiker lustig gemacht hatte. »Sie hielt sich, weiß ich, die Augen bloß zu.«
    »Augenblick, Gerda«, unterbrach Ruth. »So einfach dürfen wir es uns aber auch nicht machen. Der Graf hat der Marquise Gewalt angetan. Das steht außer Frage. Aber was hat sich zwischen diesen beiden Menschen abgespielt? Was ist da wirklich geschehen? Eine Vergewaltigung im herkömmlichen Sinne sicher nicht. Aber die Marquise soll mitgemacht haben? Glauben Sie das wirklich? Selbst wenn der Autor das behauptet?«
    Gerda zuckte mit den Schultern und schielte feindselig zu

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