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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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traf ich eine Entscheidung. Ich ging über den wie ausgestorben daliegenden Campus zu meiner Wohnung und suchte nach dem Begrüßungspäckchen, das ich nach der Einführungsveranstaltung bekommen hatte. Es lag in einer der beiden Küchenschubladen zwischen dem Insektenspray und einem Päckchen Brühwürfel. Ich schüttete den Inhalt auf meinen Klapptisch und las die Beipackzettel. Es klang ziemlich übel, aber wenn während der Examenswoche der halbe Campus dieses Zeug schluckte, dann konnte ich das wohl auch. Am Ende nahm ich die einzige Substanz, die keine Gegenindikation zu Tabakgenuss auflistete, schluckte drei statt der empfohlenen zwei Pillen, löschte das Licht und ging wieder hinaus.
    »Matthew?«
    Janine stand unten an der Treppe. Ich ging auf sie zu. Wir küssten uns. Dann standen wir stumm auf der Stelle und lauschten den Zikaden oder was immer in den Büschen um uns herum zirpte.
    »Wo warst du denn den ganzen Abend? Ich habe zigmal bei dir angerufen.«
    »Barstow hat mich bei Marian angemeldet«, antwortete ich. »Morgen Nachmittag habe ich einen Termin bei ihr. Deshalb muss ich durcharbeiten. Ich sitze schon seit heute Nachmittag in der Bibliothek.«
    Sie lächelte. »Na toll. Das wolltest du doch unbedingt.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Dann sind nun meine beiden Männer bei der gleichen Frau.«
    Ich küsste sie. »Am liebsten würde ich nur bei dir studieren.«
    »Ja, ja. Gehst du morgen schwimmen?«
    »Sicher erst nach dem Gespräch mit Marian. Kommst du auch? Sagen wir, um fünf.«
    »Lieber um sechs. Komm, ich begleite dich ein Stück.«
    Sie hakte sich bei mir unter und wir spazierten durch die Nacht. Niemand konnte uns sehen. Es war das erste Mal, dass wir so eng umschlungen in der Öffentlichkeit herumliefen. Dazu kam die Droge, die jetzt ihre Wirkung entfaltete. Ich blieb stehen und schaute sie an.
    »Komm, wir gehen zu mir«, sagte ich.
    »Nein. Du musst arbeiten.«
    »Ach was. Das kann ich dann immer noch.«
    »Aha, du willst eine schnelle Nummer?«

    »Ich pfeife auf Marian und alle Theorien der Welt für eine Minute mit Dir.«
    »Danke«, sagte sie, »das ist die schönste Liebeserklärung, die du mir machen kannst.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Und bevor ich noch etwas erwidern konnte, lief sie in die Nacht davon.
    Ich war jetzt hellwach. Dieses Medikament war erstaunlich. Um drei Uhr hatte ich Schiller geschafft. Nein, nicht nur geschafft. Ich war sogar recht zuversichtlich, dass ich ihn morgen halbwegs würde referieren können, wenn Marian das wollte. Ich ging eine Zigarette rauchen, überlegte dabei die ganze Zeit, was zwischen Janine und David vor sich ging, kam aber zu keinem Schluss. Seit den Andeutungen vom letzten Mal hatte sie kein einziges Wort mehr über ihn verloren. Er war ihr Freund. Sie liebte ihn. Sie hatten eine schwierige Zeit. Und sie hatte Lust, mit mir zu schlafen, mit mir Zeit zu verbringen. Damit war alles gesagt. Und nichts erklärt.
    Als ich am Ende von Schlegels Studium-Aufsatz angekommen war, dämmerte es. Die Gruppe der Nachtarbeiter, die die Bibliothek mit mir geteilt hatten, war mittlerweile auf drei zusammengeschmolzen, von denen einer am Tisch schlief, der Zweite eifrig schrieb und der Dritte sich soeben erhob und sein Sachen packte. Ich blickte auf den Tisch vor mir, meinen Stapel Notizblätter, die zerfledderten Fotokopien. Die Droge wirkte noch immer. Ich spürte keinerlei Müdigkeit. Aber wie sollte ich die Zeit bis zu meinem Termin verbringen?
    Ich frühstückte einen Bagel. Und dann war die Wirkung mit einem Mal wie weggeblasen. Ich wankte benommen zu meinem Zimmer. Was nur, wenn ich jetzt in ein Loch der Übermüdung fiel? Dann würde ich das Gespräch gleich vergessen können. Ich stellte zwei Wecker auf einmal und legte mich in meinen Kleidern auf die Couch. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich ein dumpfes Gefühl im Kopf. Ich duschte, erst heiß dann kalt, trank eine halbe Flasche Coca-Cola und wartete. Allmählich hob sich der schwere Druck auf der Stirn. Es war drei Uhr. Noch eine gute Stunde hatte ich Zeit, um meine Notizen der vergangenen Nacht noch einmal zu überfliegen, womit ich auch sofort begann. Danach rasierte ich mich, zog meinen einzigen Anzug an, legte Rasierwasser auf, widerstand der Versuchung, eine Zigarette zu rauchen und griff stattdessen nach einem Apfel. Dann machte ich mich auf den Weg.

Kapitel 20
    Marian war nicht da. Catherine, ihre Sekretärin, meinte

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