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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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jedoch, sie würde sicher gleich kommen. Ich sollte einfach schon hineingehen. Ich bekam also noch mehr Zeit, mich in meiner steigenden Nervosität einzurichten. Die Tür zu ihrem Büro stand offen. Ich trat ein und nahm auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch Platz. Das Erste, was mir ins Auge fiel, war das Foto von Jacques De Vander, das hinter dem weitgehend leeren Schreibtisch der Professorin an der Wand hing. To Marian, with affection and gratitude, stand handschriftlich am unteren Rand. Amities, Jacques.
    Mein Blick wanderte über die Buchrücken auf dem einzigen Regal und über die geöffnete Hängeregistratur an der Wand daneben, in der beigefarbige Akten hingen. Ein einsamer Kunstdruck schmückte den Raum: Ceci n'est pas une pipe, dies ist keine Pfeife, stand darauf. Darüber die Abbildung einer Pfeife. Von wem war das noch? Ich ging näher heran. Ach ja, Magritte. Musee National de Bruxelles. Vielleicht ein Geschenk von Jacques De Vander? Er war ja Belgier gewesen.
    Ich war versucht, die Notizen meines Nachtmarathons noch einmal durchzulesen, entschied mich dann aber dagegen. Jetzt war es zu spät. Ich hatte das Gefühl, gar nichts mehr zu wissen. Ich würde mich bestimmt lächerlich machen. Das einzige, woran ich mich im Moment erinnerte, waren meine Lücken. Kant, Fichte, das ganze philosophische Umfeld des deutschen Idealismus, in dem Kleists Fabel irgendwie einzuordnen war -das kannte ich alles nur vom Hörensagen.
    Jacques De Vander lächelte mich an. Er stand vor einer Bücherwand, das typische Professorenfoto. Halbkörperporträt. Jackett, Schlips und weißes Hemd, die Arme auf dem Rücken, eine Pose distanzierter Bescheidenheit. Bei genauerem Hinsehen lachten nur seine Augen. Seine Mundwinkel waren enttäuscht nach unten gezogen, was in seiner Gesamtheit den Eindruck von resigniertem Gleichmut ergab. Die Widmung war datiert. 1980. Das Foto war also drei Jahre vor seinem Tod entstanden. Viel wusste ich nicht über ihn. Nur dass sein Leben eine europäisch-amerikanische Erfolgsstory gewesen war, fast das Modell für einen Bildungsroman: Mittelloser, verarmter Intellektueller strandet nach dem Zweiten Weltkrieg in New York, hält sich als Buchverkäufer notdürftig über Wasser, erregt durch Literaturkritiken Aufmerksamkeit im akademischen Milieu und steigt allmählich zum einflussreichsten Literaturwissenschaftler des Landes auf.
    Jemand betrat hinter mir den Raum. Ich erhob mich und drehte mich um.
    »Oh, sorry«, sagte er. »Ist Marian nicht hier?«
    »Äh ... nein. Ich warte auf sie.«
    »Also zu spät, wie immer.«
    Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.
    »Kennen wir uns?«, fragte er. »Ich bin David. Bist du neu hier?«
    »Matthew«, sagte ich. »Ich bin Gaststudent. Aus Deutschland.«
    »Ah«, rief er erfreut und lächelte. »Dann kennen wir uns ja doch. Du warst mit Janine bei diesem Eiscremefritzen.«
    Er sah völlig anders aus als noch vor drei Wochen, als ich ihn aus der Ferne in der Bibliothek gesehen hatte. Vielleicht hatte die Entfernung getäuscht? Er sah jetzt ungepflegt aus. Wo blieb nur Marian?
    »Willst du einen Kurs bei ihr machen?«, fragte er. Er fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln, und ich sah einen gelben Nikotinfleck auf seinem Zeigefinger.
    »Ja«, sagte ich.
    »Und welchen?«
    »Kleist. Das Marionettentheater.«
    »So? Dann sehen wir uns ja.«
    Er musterte mich. Oder war das Einbildung? Wahrscheinlich versuchte er herauszufinden, warum ich so verstockt vor ihm stand und seinem Blick auswich. Hatte Janine ihm etwas gesagt? Mein idiotisches Verhalten musste ihm ja komisch vorkommen. Aber ich bekam keinen vernünftigen Satz über die Lippen. Dieses Gesicht lag jede Nacht neben ihr auf ihrem Kopfkissen.
    »Was suchst du denn hier, David?«
    Marian stand in der Tür und schaute uns beide verwundert an.
    »Briefpapier«, sagte er, ohne den Blick von mir zu nehmen.
    »Das kann Catherine dir geben.«
    »Genau.«
    Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Marian schloss die Tür und reichte mir die Hand.
    »Sie sind Matthew, nicht wahr? Bitte. Nehmen Sie Platz. Verzeihen Sie, dass ich zu spät bin. Ich wurde aufgehalten.« Sie stellte eine übervolle Ledertasche auf dem Tisch ab und setzte sich nun ebenfalls.
    »John hat sich sehr lobend über Sie geäußert«, begann sie und erklärte mir dann, was ich schon von Billings wusste. »Sie bleiben nur ein Jahr hier, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Vielleicht aber auch länger?«
    »Das weiß ich noch nicht. Es

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