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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sonst sagen sollen? Ich erhob mich und lehnte mich erschöpft gegen die kalte Wand der Umkleide.
    »Weiß er etwas?«, fragte ich.
    »Nein.«
    Sie zog ihren Badeanzug wieder an, blieb aber auf der Bank sitzen und schaute vor sich hin.
    »Aber ich werde es ihm sagen«, fügte sie dann hinzu. »Sobald dieser verfluchte Vortrag vorbei ist und er endlich wieder normal ist.«
    Ich glaubte ihr kein Wort. Sie hatten ein ernsthaftes Problem, sonst hätte sie nicht mit mir geschlafen.
    »Was hat er denn?«, fragte ich.
    Sie warf ihren Kopf ein wenig zurück, strich sich die Haare aus dem Gesicht und starrte zur Decke hinauf.
    »Seit seiner Rückkehr aus Europa ist er komisch«, sagte sie. »Zu mir, zu Marian, zu allen. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Ich will auch nicht darüber reden. Schon gar nicht mit dir.«
    »Ja. Klar.«
    Wir schwiegen. Ich machte Anstalten, meine Badehose wieder anzuziehen, aber sie erwischte den Saum mit ihrem rechten Zeh und sagte: »Warte noch einen Moment.«
    Sie schaute mich an. Es war merkwürdig, nackt vor ihr zu stehen. Aber ich genoss ihren Blick. Es erregte mich, dass sie mich so voller Lust ansah.
    »Kannst du dich noch an den Typen auf der Party erinnern?«, fragte sie dann.
    »Auf der Ledercouch?«
    »Ja.«
    Ich nickte.
    »Wie lange ist das her?«, fragte sie. »Drei Wochen? Vier Wochen?«
    »So etwa.«
    »Eigentlich wollte ich es mit ihm machen. Irgendeiner, dachte ich. Aber das ging nicht.«
    Sie schwieg kurz.
    Dann fuhr sie fort: »Ich mag dich, Matthew.«
    Ich versuchte, die Logik ihrer Sätze zu entschlüsseln, kam aber nicht sehr weit. Wollte sie David wehtun, weil er ihr wehgetan hatte, und tat sie sich dabei nun selbst weh? Irgend so ein Muster war das wohl. Jetzt kam auch ich darin vor. Ich beugte mich zu ihr herunter und küsste sie. Sie schaute mich ernst an. Dann wurden ihre Augen feucht.
    »Shit!«, sagte sie und starrte an die Decke.

Kapitel 18
    Barstow nahm sich viel Zeit, um meine Hausarbeit über Stephen Crane mit mir durchzusprechen. Auf den Seiten wimmelte es von seinen handschriftlichen Anmerkungen. Seine Kommentare umfassten zwei DIN-A4-Seiten. Am Ende hatte er sich an einer Fußnote festgehakt. »Wie meinen Sie das, wenn Sie schreiben, Impressionismus sei vielleicht gar kein moderner, sondern ein spätromantischer Stil?«
    »Der Roman war damals eine Sensation«, sagte ich. »Sogar Kriegsveteranen schworen Stein und Bein, der Autor müsse die Schlachten des Bürgerkriegs selbst erlebt haben, um sie so realistisch beschreiben zu können. Aber der Erzählstil ist völlig unrealistisch. Das hat mich gewundert. Der extrem impressionistische Stil wurde von den Zeitgenossen gar nicht als Verfremdung wahrgenommen.«
    »Und weiter?«
    »Crane war nie im Krieg«, fuhr ich fort. »Aber die damaligen Leser konnten das nicht glauben. Sie empfanden die extrem zersplitterte Welt des Romans als stimmig. Und je näher die Leser mit den geschilderten Ereignissen persönlich vertraut waren, desto realistischer kam ihnen die Erzählung vor. Ich dachte immer, der Impressionismus habe etwas vorweggenommen, die moderne Welt, in der das Ich sich aufzulösen droht. Aber vielleicht war der Impressionismus ja auch ein letztes Aufbäumen der Romantik, die ja versucht hat, das bedrohte Ich als Zentrum der Welterfahrung zu retten?«
    »Das eine schließt das andere ja nicht aus. Aber warum verstecken Sie so einen Gedanken in einer Fußnote?«
    Ich zuckte mit den Schultern, unsicher, ob seine Bemerkung als Lob oder Tadel zu werten war. Es war das erste Mal, dass sich in Hillcrest jemand für meine Gedanken interessierte, und dieser jemand war nicht irgendwer, sondern John Barstow, ein Professor der eher gefürchteten Sorte.
    »Sie brauchen nicht zu antworten«, sagte er. »Wir müssen auch zum Schluss kommen, Matthew. Ihre Note haben Sie ja bereits. Sind Sie damit zufrieden?«
    »Zufrieden? Ein A. Besser geht es ja nicht.«
    »Doch. Ich habe Kollegen, die A+ als Note vergeben, aber ich finde das albern. Also, die Arbeit ist ausgezeichnet. Sie können zufrieden sein. Und ich habe mein Versprechen gehalten. Ich habe mit Marian geredet.«
    »Sie haben...?«
    »Ja, ich denke, Sie sollten die Möglichkeit haben, ein Seminar bei ihr zu machen. Sie hat morgen Nachmittag Sprechstunde. Ich habe Sie vorsorglich schon mal angemeldet. Oder haben Sie morgen um halb fünf schon etwas Dringendes vor?«
    »Aber... ich bin darauf überhaupt nicht vorbereitet. Ich weiß nicht einmal, was für ein Seminar sie

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