Der gestohlene Abend
hängt auch nicht nur von mir ab.«
»Was interessiert Sie an De Vanders Theorie?«
Ich dachte, im Boden versinken zu müssen. Ich hatte mich die ganze Nacht durch Kleist, Schlegel und Schiller gekämpft, und jetzt diese Frage. Dabei war es ja die naheliegendste. Ich nahm mir drei Sekunden für meine Antwort Zeit, dann beschloss ich, alle Strategien fallen zu lassen und einfach nur ehrlich zu sein. Die Begegnung mit David hatte mir gereicht. Ich hatte dem Treffen mit Marian mit Bangen entgegengesehen. Warum nur? Sie war sympathisch. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Den Kampf gegen ein leichtes Übergewicht, falls sie ihn jemals geführt hatte, hatte sie zwar verloren, nicht jedoch ihr hübsches Gesicht. Sie hatte wache Augen, eine schmale Nase und einen spitzen, aber irgendwie kessen Mund. Ihr weiblicher Körper hob sich für meinen Geschmack von der hier vorherrschenden durchtrainierten, südkalifornischen Idealfigur eher vorteilhaft ab. Ein absurder Verdacht durchfuhr mich: Hatte David möglicherweise etwas mit ihr gehabt? Hatten sie deshalb in der Bibliothek gestritten? Hatten David und Janine deshalb eine Krise? War ich der Seitensprung, mit dem Janine David etwas heimzahlen wollte?
Marian schaute mich an und wartete auf meine Antwort.
»Ich war immer fasziniert von Literatur, Miss Candall-Carruthers...«
»Marian«, unterbrach sie mich. »Wir sind hier nicht so förmlich.«
»Ja, danke. Ich meine, deshalb habe ich dieses Studium begonnen. Ich wollte herausfinden, was Literatur in mir anrichtet. Wie das vor sich geht. Aber der Literaturunterricht, den ich bisher erlebt habe, war immer nur ... ja, ich weiß nicht so recht... es war wie ein Ersatz. Literatur wurde immer als ein Vorwand benutzt, um über Ethik, Moral, Psychologie oder Geistesgeschichte zu sprechen. Aber das Eigentliche, das Wesentliche daran ist doch etwas ganz anderes.«
»Und worum könnte es sich da Ihrer Meinung nach handeln?«, fragte sie.
Warum hatte ich mich nur auf so ein Gespräch eingelassen? Ich kannte diese Frau überhaupt nicht. Und was ich ihr erklären wollte, lag völlig wirr in mir herum. Sie lehnte sich ein wenig vor. Offenbar fand sie das, was ich gesagt hatte, nicht völlig unsinnig. Was hatte ich schon zu verlieren? Wenn es nicht sein sollte, dann eben nicht. Und wollte ich überhaupt mit David in einem Seminar sitzen?
»Ich habe kein besseres Wort dafür als: Schicksal. Irgendetwas Übergreifendes. Sinn.«
Sie lehnte sich wieder zurück.
»Schreiben Sie, Matthew?«
»Was? Nein. Wieso?«
»Nur so eine Idee.«
Was für ein merkwürdiges Gespräch. Was sollte sie bloß von mir denken. Schicksal? Sinn? Waren wir hier in der Kirche? Aber ich konnte es nicht besser ausdrücken.
»Mit Ihrer Frage sind Sie hier schon richtig. Jacques De Vander hat sich sein Leben lang darüber gewundert, dass Literatur mit ästhetischen Funktionen befrachtet wird, von denen wir nicht einmal wissen, ob es sie gibt. Aber Schicksal? Gehört dieser Begriff nicht eher in die Reihe der Ersatzfunktionen, die Sie eigentlich ablehnen? Ins Theologische etwa?«
Ich sagte nichts. Ich hatte keinen klaren Begriff für das, was ich meinte. Marian wartete, aber da ich nicht antwortete, fuhr sie fort:
»Wo Sie Schicksal sagen, sagen wir: Sprache. Vielleicht ist es ja das Gleiche. Es ist auch nicht so wichtig, wie wir es bezeichnen, solange wir wissen, wovon wir sprechen. Und offenbar wissen Sie das. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Sie scheinen ein Gespür dafür zu haben, was ja zunächst ausreichend ist. Kommen wir zu den praktischen Fragen. Was haben Sie sich für das nächste Trimester vorgenommen?«
»Für das nächste Trimester ... also, ehrlich gesagt, ich habe noch keine endgültige Wahl getroffen.«
»Wer ist ihr Counselor?«
»Das ist Mr. Billings. Aber eigentlich habe ich keinen. Als Gaststudent ist man wohl automatisch bei Billings und, na ja, er berät mich im Grunde nicht.«
Marian runzelte die Stirn. Aber warum sollte ich es besser klingen lassen, als es war?
»John hat mir gesagt, über Kleist hätten Sie schon gearbeitet?«
Es klang merkwürdig, wie sie das aussprach. Kläist.
»Ja. In Berlin die frühen Dramen und hier bei Ruth die Novellen.«
»Und wie steht es mit dem deutschen Idealismus? Kennen Sie sich damit aus?«
Ihre Fragen kamen jetzt ziemlich schnell eine nach der anderen. Sie prüfte mich und fand zielsicher jede Schwachstelle. Was sollte ich schon sagen zu Kants dritter Kritik? Ich kannte sie nicht.
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