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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Und Fichtes Subjektbegriff? Fehlanzeige. Mehrmals war ich drauf und dran, selbst vorzuschlagen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich hatte einfach nicht die nötige Vorbildung für ihr Seminar. Ihr Gesichtsausdruck wurde immer ernster. Ich sah, dass sie es zu verbergen versuchte, aber ich spürte ihren Unwillen. Bei Schlegel und Schiller bekam ich wenigstens eine halbwegs zufriedenstellende Antwort hin. Aber selbst da wurde mir nach zwei genaueren Nachfragen sofort klar, wie oberflächlich meine Lektüre gewesen war.
    »Schlegels Studium-Aufsatz haben Sie wenigstens schon einmal bearbeitet«, sagte sie. »Wie lange ist das her?«
    Sollte ich lügen? »Ein paar Stunden«, antwortete ich.
    Sie sah mich irritiert an. Ich öffnete meine Tasche, holte mein ganzes Material heraus und legte es vor ihr auf den Tisch. »Professor Barstow hat mir gestern Mittag gesagt, dass Sie mich heute empfangen würden. Ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet. Mehr als das habe ich einfach nicht geschafft.«
    Sie blätterte zögernd in dem Stapel herum, zog ein paar der Aufsätze heraus und musterte die Überschriften.
    »Haben Sie das selbst zusammengestellt?«
    »Ja.«
    »Wie sind Sie vorgegangen?«
    Ich erzählte es ihr. Dann schob sie mir den Packen wieder hin. Warum gab sie sich mit mir ab? Wie war es Barstow überhaupt gelungen, sie dazu zu bringen, mich für ihr Seminar auch nur in Erwägung zu ziehen? Was für ein Interesse verfolgte er damit? Marians Körperhaltung sprach Bände. Sie wollte mich am liebsten so schnell wie möglich loswerden. Aber etwas hielt sie zurück, und sicher nicht meine Muttersprache oder die Tatsache, dass ich soeben den Beweis erbracht hatte, dass ich ernsthaft bemüht war, meine Wissenslücken zu füllen. Wahrscheinlich kam ihr das sogar bemitleidenswert vor.
    »Hören Sie zu, Matthew. Sie sind ein nicht ganz alltäglicher Fall. Üblicherweise habe ich Studenten vor mir, die überhaupt keine Fragen haben. Sie haben offenbar eine Frage, können sie aber nicht sinnvoll stellen. Ich weiß nicht, wie das kommt. Aber ich habe mich schon oft gefragt, wie es wäre, Studenten zu haben, die keine Antworten suchen, sondern lernen wollen, ihre Fragen richtig zu stellen.«
    Sie muss sich selbst überzeugen, dachte ich. Sie denkt laut.
    »In 100er- und 200er-Kursen werden Sie auf dieser Ebene nicht bedient. Zudem sind Sie nur begrenzte Zeit hier und haben einen besonderen Status. Ich bin bereit, für Sie eine Ausnahme zu machen. Unter einer Bedingung: Sie halten den Arbeitsrhythmus, in dem Sie sich auf unser heutiges Gespräch vorbereitet haben, über ein ganzes Trimester. Denn das werden Sie müssen, sonst kommen Sie nicht mit. Trauen Sie sich das zu?«
    Nein, niemals, dachte ich.
    »Ja. Natürlich.«
    »Wie viele Kurse müssen Sie für Ihr Stipendium mindestens belegen?«
    »Das Minimum ist drei.«
    »Gut. Sie werden kaum Zeit für etwas anderes haben. Wählen Sie also die anderen beiden Kurse entsprechend aus, irgendetwas, das ein wenig Spaß macht und nicht viel Zeit verschlingt. Ich werde Ihnen über Catherine eine erweiterte Literaturliste zukommen lassen, in die Sie sich bis nächste Woche bitte einarbeiten. OK?«

Kapitel 21
    Janine kam nicht zum Schwimmen. Aber ihre Stimme war auf dem Anrufbeantworter.
    »David hat mir erzählt, dass er dich heute getroffen hat. Ich glaube, er ahnt etwas. Aber er sagt nichts, wahrscheinlich wegen übermorgen. Ich werde mit ihm reden, wenn er diesen Vortrag hinter sich gebracht hat. Vorher kann ich das nicht machen. Es ist zu wichtig für ihn.«
    Pause.
    »Ich weiß auch gar nicht, was ich ihm sagen soll.«
    Danach hatte sie noch einmal angerufen.
    »Bitte lass mir Zeit bis Donnerstag.«
    Pause.
    »Ich denke die ganze Zeit an dich.«
    Meine Hoffnung, ihr wenigstens zufällig zu begegnen, erfüllte sich nicht. Stattdessen sah ich zweimal David mit Büchern bepackt aus dem Archiv kommen. Ich beobachtete ihn verstohlen und fühlte mich elend. Wie musste Janine sich erst fühlen? Sie wohnten schließlich zusammen. Bereute sie unsere Begegnung? Welches Problem hatten die beiden eigentlich? Wie würde David reagieren, wenn er erfuhr, was geschehen war? Sie wollte ihn schließlich nicht verlassen. Das hatte sie ja erklärt. Aber wie sollte es dann weitergehen? Worauf sollte ich mich einstellen?
    Mit gemischten Gefühlen bangte ich dem Donnerstag entgegen. Ich aß kaum und ging auch nicht schwimmen. Ich hockte die meiste Zeit tatenlos herum, starrte in Bücher, die mir egal

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