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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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waren, oder saß rauchend auf meiner Klappcouch und wartete, dass das Telefon klingelte. Als es endlich geschah, war es Winfried. Er wollte wissen, ob ich am nächsten Tag auch zur Lecture gehen würde und ob ich danach noch etwas vorhätte. Er habe Theo und Gerda auf ein Bier eingeladen und würde sich freuen, wenn ich auch vorbeikäme. Ich sagte gern zu.
    Als ich mich am nächsten Abend auf den Weg zum Brooker Auditorium machte, traf ich ausgerechnet auf Gerda, die gerade ihren Wagen vor meinem Haus parkte.
    »Du wohnst hier?«, rief sie überrascht.
    »Ja. Du aber doch wohl nicht, oder?«
    »Nein. Aber meine Parkkarte ist abgelaufen. Trimesterende. Ich hatte noch keine Zeit, eine neue zu holen. Die kontrollieren ziemlich scharf und schleppen sofort ab. Deshalb parke ich heute hier draußen.«
    Wir überquerten gemeinsam die Brücke zum Campus und schlugen dann den Weg zu dem Hügel ein, auf dem das Auditorium lag. Keine Wolke stand am Himmel. Eine leichte Brise wehte vom Meer. Die Luft war wie aus Glas.
    »Wie findest du Ruth?«, wollte sie wissen.
    »Toll«, sagte ich. »Aber ich bin immer befangen, wenn ich mit ihr allein bin.«
    »Wegen der Nummer?«, fragte Gerda.
    »Ja.«
    »Das geht vielen so.«
    »Kennst du ihre Geschichte?«
    »Nein. Andererseits weiß ja jeder, was passiert ist. Deshalb ist man ja sprachlos. Ich weiß nur, dass sie Treblinka überlebt hat.«
    Allein das Wort. Treblinka.
    »Kommt sie heute Abend auch?«
    »Nein«, sagte sie. »Sie mag den Zirkel um Marian nicht besonders.«
    »Ach ja. Warum?«
    »Jemand wie Ruth hat wahrscheinlich wenig Lust dazu, sich erklären zu lassen, dass alle Fragen an die Welt rhetorisch sind. Ich bin schon gespannt, was Marians Zögling heute Abend vortragen wird. Er soll ziemlich gut sein.«
    »Kennst du ihn näher?«, fragte ich.
    »Nein. Du?«
    »Nein«, antwortete ich knapp, während eine Stimme in mir weitersprach: Ich schlafe nur mit seiner Freundin.
    »Wieso bleibst du stehen?«, fragte sie.
    »Nur so«, log ich und fügte schnell hinzu: »Was soll das eigentlich heißen?«
    »Was?«
    »Dass Literatur nur rhetorisch ist?«
    Gerda fuhr sich durch ihre fülligen blonden Haare und schüttelte leicht den Kopf, sodass sie ihr regelmäßig über die Schultern fielen. In ihrem dunkelgrünen Kostüm hatte sie mehr von einer Dozentin als von einer Studentin.
    »Soweit ich das verstanden habe, geht es darum, dass es keine eindeutige Aussage geben kann.«
    »Und wieso?«
    »Genau erklären kann ich dir diese Theorie auch nicht. Aber David wird es uns heute Abend ja vormachen. Du wirst schon sehen. Er wird die Sonette auf eine Art und Weise interpretieren, wie du sie noch nie gelesen hast.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Ja. Wenn ein Student für eine Hillcrest-Talent-Lecture vorgeschlagen wird, dann heißt das schon etwas. David wird mit Sicherheit eine lupenreine Anwendung von De Vander vortragen.«
    »Und das heißt?«
    »Er wird genau das nicht tun, was du und ich normalerweise mit einem Gedicht oder einem Text machen würden. Er wird vermutlich kaum etwas über Shakespeare sagen, nichts über die Geschichte der Sonette, schon gar nichts über irgendwelche philologischen oder editorischen Probleme, die sich bei Shakespeare ja immer stellen. Er wird die Sonette nicht lesen, sondern er wird sie unlesbar machen. Alle Vorträge von Leuten aus dem INAT, die ich bis jetzt erlebt habe, waren so. Sie erklären nichts, sondern sie legen ihre Interpretation wie eine flimmernde Folie über die Texte, die sie bearbeiten. Eigentlich ist es wie mit diesen Farbrätseln auf Cornflakes-packungen, nur umgekehrt.«
    »Was für Farbrätsel? Ich verstehe gar nichts.«
    »Das kennst du doch bestimmt. Diese grünen oder blauen Farbmuster, in denen man außer flirrenden bunten Punkten nichts erkennen kann, bis man eine rote Transparentfolie drüberlegt. Plötzlich sieht man eine Zahl oder ein Wort, irgendetwas, das man vorher nicht erkennen konnte. Die Leute vom INAT machen es im Grunde genau umgekehrt. Sie interpretieren einen literarischen Text, und wenn sie damit fertig sind, hast du das Gefühl, den Text noch nie wirklich gelesen zu haben. Im Gegenteil. Wo du hinschaust, bei fast jedem Wort, siehst du plötzlich nur noch flirrende grüne und blaue Punkte. Und das Schlimme ist: Du bist dir sicher, dass da jetzt ein großes Geheimnis verborgen ist.«
    »Und die rote Folie?«
    »Tja, die geben sie dir nicht. Hallo ihr beiden.«
    Wir waren vor dem Brooker Auditorium angekommen. Winfried

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