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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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habe Verständnis dafür, dass Sie misstrauisch sind. Alle hier sind sehr misstrauisch. Niemand will mit mir reden. Das ist es ja, was mich so stutzig macht. Hier ist die Karte des Hotels, in dem ich zu erreichen bin. Es liegt unten auf der Newport Halbinsel. Falls Sie doch mit mir über David sprechen möchten, rufen Sie mich an. Vielleicht ist das alles ja nur eine Ente, ein Streich, der dem überreizten Hirn eines nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Studenten entsprungen ist. Vielleicht litt Mr. Lavell unter Verfolgungswahn. Ich bin noch bis Montag hier.«
    »Mit wem haben Sie denn bisher sonst noch gesprochen?«
    »Mit Mr. Billings. Und mit dem Pressebüro der Polizei.«
    »Und was ist mit dem INAT? Miss Candall-Carruthers?«
    »Ich konnte noch keinen Termin bei ihr bekommen. Aber ich bleibe dran.«
    »Und Miss Uccino?«, fragte ich.
    »Habe ich noch nicht erreicht«, antwortete er. »Warum fragen Sie?«
    »Nur so. Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen sprechen würde. Sie zuallerletzt.«
    »Man muss es versuchen.«
    »Wissen Sie denn, wo sie ist?«
    Er schaute mich erstaunt an. Mir war es plötzlich egal. Sollte er doch denken, was er wollte.
    »Setzen Sie sich wieder hin«, sagte ich. »Ich beantworte Ihre Fragen, so weit ich kann. Unter zwei Bedingungen.«
    »Ich höre.«
    »Erstens: Ich will nicht zitiert werden. Nirgendwo. Keinerlei Nennung meines Namens.«
    »OK. Und die zweite Bedingung?«

Kapitel 45
    Ich erzählte ihm, was ich wusste. Der Shakespeare-Vortrag interessierte ihn, die Spannungen in der Gruppe um Marian, die Gerüchte um ihre umstrittene Berufung. War David vielleicht in eine hochschulpolitische Intrige involviert gewesen? War er unter Druck gesetzt worden? Lag das Motiv für das Feuer vielleicht hier? Lehman schien einen ähnlichen Verdacht zu hegen wie Winfried. War es das? Eine Berufungsintrige? So etwas kam ja vor. Aber warum sollte ein Postengerangel an einer Universität im fernen Kalifornien ein Thema für die New York Times sein? Wen sollte das schon interessieren?
    Der mysteriöse Betreff aus Davids Schreiben war ein weiterer Punkt, auf den er immer wieder zurückkam. Hatte David mir gegenüber von einem gestohlenen Abend gesprochen? Hatte er genau diese Formulierung verwendet? Ob ich ihn nicht gefragt hätte, was er damit sagen wollte? Ich hatte mir zu dieser Frage auch schon den Kopf zerbrochen. Aber die Gespräche, die wir auf Hearst Castle geführt hatten, boten diesbezüglich keinerlei Anhaltspunkt. Ich konnte es mir nur so erklären, dass die Formulierung auf unsere Dreiecksbeziehung bezogen war. David hatte Janine und mir durch seine sonderbare Aktion nicht nur einen Abend, sondern das ganze Wochenende verdorben. Vielleicht war es ja auch eine Gedichtzeile? Ein Vers aus den Sonetten?
    Als Lehman wieder ging, hatte er zwei Blöcke mit Notizen in seiner Tasche, und ich besaß seine Karte, auf deren Rückseite er eine zehnstellige Telefonnummer notiert hatte. Mein Zeugengeld. Ich hatte das Gefühl, dass wir beide einen wertlosen Tausch gemacht hatten. Was würden Lehman meine Informationen nützen? Und was sollte ich mit Janines Telefonnummer anfangen, jetzt, da ich sie hatte? Sie anrufen? Wozu? War ihr Schweigen nicht eindeutig?
    Das Wochenende brachte sintflutartige Regenfälle. Erdrutsche wurden gemeldet. Das Thermometer sank zum ersten Mal auf unangenehm winterliche Temperaturen, und ich sehnte mich nach Steinhäusern und beheizten Cafes. Ich wollte nach Hause. In zehn Tagen begann die Weihnachtspause. In einem Anfall von Heimweh rief ich meine Eltern an und bat sie, mir einen Heimflug zu spendieren, was sie auch taten. Es war nur noch einer dieser Höllenflüge mit drei Zwischenstopps zu bekommen, der über zwanzig Stunden dauern würde und in Amsterdam endete. Die restliche Strecke musste ich mit dem Zug fahren. Aber dafür würde ich am 21. Dezember fliegen. Das allein interessierte mich. Weg hier. Ich überlegte, ob ich nicht sogar alles hinschmeißen sollte. Das ganze Studium.
    Mein Elan war dahin. Selbst Marians Seminar saß ich nur noch ab. Ich sagte selten etwas, lauschte teilnahmslos ihren Ausführungen zu Kleist, wechselte manchmal einen Blick mit Julie, wenn Mark Hanson zu einer längeren Antwort ausholte und vor allem zu erkennen gab, was er gerade wieder alles gelesen hatte. Ich konnte mich bemühen, so sehr ich wollte: Etwas war in mir abgerissen. Ich fühlte mich verlassen und verraten. Irgendeine ungute Heimlichkeit war um David und Janine gewesen. Und hatte

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