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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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und sie gefragt, ob in meinen Bewerbungsunterlagen nicht meine Berliner Adresse und meine Telefonnummer zu finden seien.
    »Davids Unfall hat mich umgehauen, Matthew. Ich bin durchgedreht, verstehst du. Es tut mir leid. Du hast recht, wenn du denkst, ich sei völlig egoistisch gewesen. Aber das sah nur so aus. Ich konnte nicht anders.«
    Im Hinterhof explodierte ein verspäteter Feuerwerkskörper.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Die Russen kommen«, sagte ich.
    »Wenn das so ist, dann solltest du schnell fliehen.«
    »Wohin denn?«
    »Nach Paris zum Beispiel.«
    Wie sie das sagte.
    »Kannst du nicht kommen?«
    Es knallte erneut. Aber diesmal war es ein glühendes Stück Kohle, das aus dem Offen schoss. Ich sprang auf, trat die Glut auf dem Dielenboden aus und schloss die Ofenklappe.
    »Was ist denn an diesem letzten Abend überhaupt passiert?«
    »Wir haben gestritten. Er wurde verletzend. Ich war total am Ende, als er ging. Ich musste einfach allein sein, schlafen, mich von ihm lösen. Ich wäre fast noch zu dir gekommen. Aber unsere ganzen Missverständnisse, das ganze verkorkste Wochenende, ich hatte einfach keine Energie mehr.«
    »Worüber wollte er denn mit dir reden?«
    »Worüber reden Paare, die sich trennen, Matthew? Frisch Verliebte sind stumm, weil sie nicht fassen können, was mit ihnen geschieht. Aus dem gleichen Grund können frisch Getrennte nicht aufhören, zu reden. Man sucht eine Erklärung, stumm im Glück, wortreich im Unglück. Dabei gibt es in beiden Fällen keine.«
    Um halb zehn war David endlich gegangen. Oder vielleicht auch etwas früher. Sie wusste es nicht mehr so genau. Sie hatte noch eine Weile aufgewühlt dagesessen, dann das Telefon ausgeschaltet und war ins Bett gegangen. Während sie mir das alles schilderte, spulte sich der ganze Abend in meiner Erinnerung noch einmal ab. Ich musste David nur knapp verpasst haben. Wären Theo und ich früher zurückgekommen, hätte ich ihn wahrscheinlich noch gesehen, bepackt mit den Taschen oder Tüten, in denen er die Flaschen mit Benzin transportiert hatte. Hatte er einfach aus dem brennenden Archiv heraus spazieren, zu seinem Wagen gehen und zum Flughafen fahren wollen? Ich begann, Janine auszufragen. Sie hatte keine blasse Ahnung, was er wirklich vorgehabt hatte. Erst jetzt hatte sie erfahren, dass David nach ihrer Trennung überhaupt nicht zu einem Freund, sondern in ein Hotel gezogen war. Allem Anschein nach war er schon seit dem Shakespeare-Vortrag entschlossen gewesen, Hillcrest zu verlassen.
    »Aber können wir nicht über uns sprechen?«, fragte sie. »Können wir uns sehen?«

Kapitel 47
    Ich bekam erst für den übernächsten Abend einen Platz in einem Zug nach Paris. Die Zeit bis dahin verbrachte ich in Hochstimmung. Trotz des schäbigen Wetters machte ich mich am Sonntag auf den Weg zum Flohmarkt und entschied mich nach langer Suche für eine Jugendstilbrosche. Ich hatte eigentlich Ohrringe kaufen wollen. Aber hatte Janine überhaupt Löcher in den Ohrläppchen?
    Den Rest des Tages versuchte ich, mit dem Crusoe-Referat voranzukommen. Ich hatte den Roman nun schon drei Mal gelesen. Wovon war in dem Buch die Rede? War es wirklich eine Aussteigergeschichte? War es nicht das genaue Gegenteil, die Chronik einer Kolonisierung? Und war es vielleicht deshalb ein Bestseller geworden, weil er Englands damalige Situation auf den Punkt gebracht hatte: Den Einfall in die Kolonien. Defoe hatte ja nebenher noch so manches geschrieben. Sätze wie: Nichts folgt mehr dem Lauf der Natur als der Handel. Ich hatte mir dummerweise die Quelle nicht notiert, wusste aber noch, aus welchem Buch das Zitat stammte. Dies war einer der Gründe, warum ich am Montag vor meiner Abreise nach Dahlem in die Bibliothek fuhr. Außerdem würde der Tag so schneller vergehen.
    Ich fand ohne Schwierigkeiten das Buch von Walter Wilson mit den Memoirs ofthe Life and Times of Daniel Defoe von 1830 und darin den Satz, den ein früherer Leser sogar unterstrichen und am Rand mit einem Fragezeichen versehen hatte: Nothing follows the course of Nature more than Trade. Ich vermerkte Jahreszahl und Bandangabe der Quelle, einer Zeitschrift Namens Review, wo der Text ursprünglich erschienen war. Ich machte mich auf dem Weg zum Katalog, um herauszufinden, ob die Zeitschrift im Magazin vorhanden war. Aber ich hatte kein Glück. Dafür kam mir angesichts der Karteikarten plötzlich ein ganz anderer Gedanke. Ich ging zum Stichwortkatalog. Mit welchem Wort sollte ich beginnen? Und in

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