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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Literatur. Wir sind alle Autoren. Genau das ist es doch, was so viele Leute gegen De Vander aufbringt. Sie werfen ihm vor, er zerstöre die Literaturwissenschaft. Ebenso hat man Freud vorgeworfen, er nehme dem Menschen die Seele. Das Gegenteil ist wahr. Er hat sie gefunden. Sie gefällt uns vielleicht nicht.
    Aber das ist ein anderes Problem. Man gewinnt nichts, wenn man den Boten köpft, der eine unerwünschte Nachricht bringt.«
    Sie brach plötzlich ab.
    »Sorry«, sagte sie dann. »Ich rede zu viel.«
    »Nein«, antwortete ich. »Ich weiß zu wenig über diese Dinge.«
    »Unsinn«, erwiderte sie. »Tut mir leid. Berufskrankheit. Wie lange bleibst du in Hillcrest?«
    »Ein Jahr«, antwortete ich.
    Sie legte ihre Hand auf meine verschränkten Arme und sagte: »Ich habe dich total zugequatscht. Soll nicht wieder vorkommen. Schön, dass du bei uns im Kurs bist. Und du brauchst keine Angst zu haben. Ich halte den Mund. Ich hasse Tratsch.«

Kapitel 44
    Ich hörte nichts von ihr. Die Tage vergingen. Ich versuchte, die Lektüre für meine Kurse wieder aufzunehmen, aber es führte nur dazu, dass ich tatenlos herumsaß. Eine Woche nach dem Unglückstag betrat ich das erste Mal wieder den Pool. Es war sieben Uhr morgens. Niemand war da. Die Wasseroberfläche lag wie ein frisch polierter Spiegel vor mir und reflektierte die Streben der Dachkonstruktion. Ich ließ mich ins Wasser gleiten, schwamm ein paar Züge und blieb dann still auf dem Rücken liegen. Auch dieser Ort war für mich nur schwer zu ertragen.
    Ich hatte versucht, über die Auskunft ihre Telefonnummer herauszubekommen. Es gab überhaupt niemanden mit dem Nachnamen Uccino in New Orleans. Wahrscheinlich wohnten ihre Eltern in einem Vorort. Oder vielleicht lebten sie ganz woanders. Sie hatte ja nur gesagt, sie sei dort geboren. Und welcher Amerikaner lebte schon länger als ein paar Jahre am gleichen Ort? War nicht die Rede von Hawaii gewesen? Ich erwog, Billings nach ihrer Telefonnummer oder nach ihrer Adresse zu fragen. Auch Marian wusste wahrscheinlich, wie ich sie erreichen konnte. Aber ich unternahm gar nichts. Was hätte ich ihr sagen sollen, selbst wenn ich ihre Nummer gehabt hätte? Sie hatte ja meine. Sie musste doch wissen, wie sehr ich auf ein Lebenszeichen von ihr wartete.
    Noch immer sah man manchmal Polizisten im Archiv. Aber die Reporter waren verschwunden. Seit die Unizeitung darüber berichtet hatte, dass das für die Brandstiftung benutzte Benzin tatsächlich aus dem Tank von Davids Auto stammte, war die Berichterstattung zum Erliegen gekommen. Es gab keinen Zweifel. David hatte das Feuer gelegt und dabei unterschätzt, mit welcher Wucht sich das Benzin in einem geschlossenen Raum entzünden würde.
    So ganz konnte ich trotzdem nicht daran glauben. Selbst wenn Julie mit ihrer Vermutung recht hatte und David immer schon ein Abtrünniger gewesen war - der Shakespeare-Vortrag wies ja in diese Richtung - war das ein Grund, ein Archiv anzünden? David war Jude gewesen. Nicht sehr religiös vielleicht, aber er hatte immerhin einige Wochen zuvor Jörn Kippur begangen. Ein Jude, der ein Archiv voller Handschriften anzündete? Die Vorstellung erschien mir unerträglich. Was hatte er sich dabei nur gedacht? Was, wenn die ganze Bibliothek abgebrannt, wenn andere Menschen zu Schaden gekommen wären? Nein. Er war nicht planvoll und methodisch vorgegangen. Er hatte in einem Affekt gehandelt. Irgendetwas hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Und das war bestimmt nicht die Geschichte zwischen Janine und mir.
    Wenn ihn das so mitgenommen hatte, dann wäre mir das aufgefallen.
    Zehn Tage nach dem Feuer stand plötzlich ein Unbekannter vor meiner Tür. Ob ich Matthew Theiss sei? Er las meinen Namen von einem Zettel ab.
    »Ja«, sagte ich, nicht besonders freundlich. Ich war mir sicher, dass er ein Polizist war.
    »Roger Lehman«, sagte der Mann und reichte mir seine Karte. Ich schaute verwundert darauf. New York Times 7 .
    »Was wollen Sie von mir?«
    Ich war auf fast alles vorbereitet, aber nicht auf den nächsten Satz.
    »Ich habe das Gefühl, Herr Lavell hätte gewollt, dass wir uns unterhalten.«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Hier. Lesen Sie. Das heißt, darf ich mich setzen, während Sie lesen?«
    Er reichte mir ein Blatt Papier. Ich ließ ihn herein. Er war sehr schlank, um nicht zu sagen hager. Er trug eine altmodische Hornbrille, als wollte er den forschen Blick seiner Augen verbergen. Er war frisch rasiert, trug einen Pulli mit V-Ausschnitt und

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