Der gestohlene Abend
nicht auch Marian damit zu tun? Das INAT, die anderen Studenten, Julie, Tom, Parisa oder Mark? Wussten sie vielleicht irgendetwas? War ich der einzige Ahnungslose?
Ich lauschte den ersten Referaten über Kleists Marionettentheater. Ich erkannte jetzt immerhin, wie Jacques oder Julie mit Marians und De Vanders Denkfiguren herum jonglierten. Immer wieder ging es um den rätselhaften Schluss von Kleists Aufsatz, wo es hieß, dass man vielleicht ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen müsse, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Dies, so hieß es weiter, sei dann aber gewiss das letzte Kapitel der Geschichte der Welt. Wie war das zu lesen? Als ein Aufruf, den Sündenfall zu wiederholen, eine Aufforderung zur Revolte? Hieß es, dass nur gar kein oder aber ein totales Bewusstsein aus Schuldverstrickungen herausführen könne? Stand der Mensch also nur vor der Wahl, ein Automat oder ein Gott zu werden? Ich hatte den Faden der Debatte schon länger verloren, als Parisa gegen Mark einen merkwürdigen Einwand vorbrachte. De Vander habe doch immer gesagt, dass Schuld ein höchst problematischer Begriff sei. Schließlich existiere jede Erfahrung zweimal, einmal als empirische Erfahrung, ein anderes Mal als fiktionale Erzählung. Niemand könne mit Sicherheit sagen, welche der beiden Versionen die richtige sei.
Ich schaute erwartungsvoll zu Marian, die stumm nickte. Der Einwand, der sich auch in mir sofort regte, wurde von Julie vorgetragen. Ob man auf diese Weise nicht die schlimmsten Verbrechen rechtfertigen könne, fragte sie. Doch, natürlich. Genau dies sei das Dilemma. Auch so etwas wie Schuld sei im Grunde niemals genau zu bestimmen. Und im Umkehrschluss verweise diese Tatsache auf die Gefahr, die von aller Literatur ausgehe, wenn sie glaube, sie sei über diesen inneren Widerspruch erhaben. Dann sei man also immer schuldig, oder niemals, fügte Mark konfus hinzu, was mit allgemeinem Kopfnicken und wie mir schien ratlosem Schweigen quittiert wurde. Und mir wurde zum ersten Mal bang in dem Kreis.
Die Tage zogen sich dahin. Im Crusoe-Seminar hörte ich kaum mehr zu. Die einzige Tätigkeit, die mir leicht von der Hand ging, war die tägliche Seite für Robin Anderson. Um meine melancholische Grundstimmung zu vertreiben, verfasste ich ein paar lyrische Beschreibungen, und als ich davon genug hatte, dachte ich mir kurze Geschichten aus, die ich recht schnell zu Papier brachte. Vier Tage vor meinem Heimflug entwarf ich einen ersten Brief an das akademische Auslandsamt, in dem ich aus persönlichen Gründen um Entlassung aus dem Stipendiatenverhältnis bat. Ich erklärte, durch die Vorfälle nicht in der Lage zu sein, mein Studium fortzusetzen. Nach stundenlangen Formulierungsversuchen warf ich alles in den Mülleimer und schrieb eine zweizeilige Kündigungserklärung ohne jegliche Begründung, die gleichfalls im Müll endete. Dann suchte ich in meinen Unterlagen nach dem Faltblatt mit den ganzen Bestimmungen und Modalitäten meines Studienaufenthaltes. Was ich las, klang niederschmetternd. Wenn ich es nicht sehr intelligent anstellte oder von einer Brücke sprang, würde ich jeden einzelnen Dollar zurückzahlen müssen.
Dann klingelte das Telefon.
»Hallo«, sagte sie.
Ich sagte bestimmt fünf Sekunden lang gar nichts und dann auch nur:
»Hallo.«
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
Als ob ich nicht sämtliche Nuancen des Tonfalls ihrer Stimme gekannt hätte. Das schlechte Gewissen, die Unsicherheit, die verschämte Neugier.
»Miserabel«, sagte ich schließlich. »Wo bist du?«
»Bei meinen Eltern«, erwiderte sie. »In Baton Rouge.«
Ich wartete. Was sollte ich schon sagen? Sie hatte fast drei Wochen lang geschwiegen. Es war an ihr, zu reden.
»Was machst du gerade?«, fragte sie.
»Nichts. Ich packe.«
Sie schwieg einen Augenblick lang.
»Fährst du nach Hause?«, wollte sie dann wissen.
»Ja.«
Erneut Stille. Ich versuchte, sie mir vorzustellen. Wie sah Baton Rouge wohl aus? Saß sie auf der Veranda einer Südstaaten-Villa? Oder im Penthouse eines Wolkenkratzers? Warum rief sie plötzlich an?
»Ein Journalist war hier. Roger Lehman, von der New York Times.«
»Ja. Bei mir ist er auch gewesen«, sagte ich. »Rufst du deshalb an? Nach drei Wochen?«
»Ich habe oft an dich gedacht, Matthew«, sagte sie nach einer Pause. »Es ging mir sehr schlecht. Ich konnte nicht reden. Mit niemandem. Ich war wie tot.«
Wieder wurde es still in der Leitung. Ich hörte sie atmen. »Ich aber nicht«, sagte ich
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