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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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schließlich. »Hast du überhaupt irgendwelche Gefühle für mich?«
    »Gefühlt habe ich in letzter Zeit wenig«, sagte sie.
    Ich spürte, dass ich den Hörer viel zu fest umklammert hielt und lockerte meinen Griff.
    »Hast du deshalb angerufen? Um mir das mitzuteilen?«
    »Nein ... so habe ich das doch nicht gemeint. Ich ... ich wollte deine Stimme hören. Erfahren, wie es dir geht.«
    Wie falsch das klang. Ich glaubte ihr kein Wort.
    »Adieu Janine«, sagte ich rasch. Dann legte ich auf.

TEIL III
Kapitel 46
    Ich verbrachte die Feiertage bei meinen Eltern und fuhr zum Jahreswechsel nach Berlin. Der Untermieter, der während meines USA-Jahres meine Wohnung benutzte, war über die Weihnachtsferien verreist und hatte nichts dagegen, dass ich für ein paar Tage zurückkam. Es war eiskalt und ein wenig feucht in den Räumen. Glücklicherweise waren die Wasserleitungen noch nicht zugefroren, was sonst jeden Winter vorkam. Ich heizte ein, putzte einen halben Tag lang, telefonierte viel und versuchte herauszufinden, wer überhaupt in der Stadt war. Schon nach einem Tag hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht weg gewesen zu sein. Hillcrest verschwamm am Horizont und nahm erst wieder Konturen an, als ich meine Taschen auspackte und die Literaturlisten zu Robinson Crusoe und Kleist und meine anderen Unterlagen zum Vorschein kamen. Ich rief in der Universitätsbibliothek in Dahlem an und erkundigte mich nach den Öffnungszeiten. Bis zum 2. Januar war geschlossen. Ich schob den unerledigten Papierstapel in eine Ecke des Schreibtisches, saß untätig da und spielte mit der kleinen Karte, die sich in dem Stapel Unterlagen befunden hatte. Roger Lehman, The New York Times. Und auf der Rückseite Janines Telefonnummer.
    Ich besuchte Freunde, ging ins Kino, füllte zweimal täglich den Kachelofen und brachte die Asche weg. Berlin stank nach verbrannten Kohlen, und wenn es morgens hell wurde, dann nur in schwarzweiß. Ich erwachte wie früher von dem Geklapper, das ein Stadtstreicher veranstaltete, der frühmorgens die Mülltonnen in meinem Hinterhof nach Verwertbarem durchwühlte. Trotz der kalten Jahreszeit spielte sich auch jetzt am Spätnachmittag das regelmäßig wiederkehrende Ritual eines völlig versoffenen Pärchens im Nebenhaus ab, das darin bestand, dass er gegen fünf in den Hinterhof torkelte, wüste Beschimpfungen zu grölen begann, woraufhin sie im dritten Stock das Küchenfenster öffnete, ähnliche Verwünschungen erwiderte und mit Kartoffeln nach ihm warf. Das Ganze dauerte nie länger als ein paar Minuten, dann war der Vorrat an Kartoffeln oder an Schimpfwörtern erschöpft. Er stieg die Treppe hinauf, sie ließ ihn herein, und was dann geschah, konnte man, sofern man etwas für Intimszenen a la Zille oder Wilhelm Busch übrig hatte, durch die gardinenlosen Fenster beobachten.
    Meine Stimmung hob sich auch an Silvester nicht besonders. Ich besuchte zwei Silvesterpartys und blieb nur deshalb bis halb drei in der Früh, weil vorher die Gefahr bestand, von Balkonen aus mit Feuerwerkskörpern beschossen zu werden. Bei leichtem Schneetreiben kehrte ich nach Hause zurück und bemerkte, dass der Anrufbeantworter blinkte. Drei Nachrichten. Ich hörte sie ab, während ich frische Briketts in den Kachelofen schob. Ein Neujahrsgruß meiner Eltern. Einer von meinem Bruder. Und dann völlig unerwartet ihre Stimme.
    »Ich hoffe, das ist dein Telefon, Matthew. Frohes neues Jahr. Ich bin in Paris. Vielleicht rufst du mal an?«
    Der hochfeuernde Kachelofen wummerte. Ich drückte die Wiederholungstaste und lauschte der Botschaft erneut. Beim dritten Mal griff ich nach dem Telefon und wählte die Nummer, die sie langsam auf das Band gesprochen hatte.
    »Hello?«, sagte sie.
    Ich saß auf dem Boden, an den Kachelofen gelehnt und hatte das erste Mal seit Wochen wieder das Gefühl, frei atmen zu können.
    »Ich bin es. Matthew.«
    »Gott sei Dank. Ich dachte schon, es wäre irgendein fremdes Telefon in Berlin gewesen. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter ...«
    »Ist nicht von mir«, sagte ich und erklärte, dass die Wohnung untervermietet war. »Woher hast du meine Nummer?«
    »Von Marian«, sagte sie.
    Sie war vor Weihnachten in Hillcrest gewesen, um sich wieder anzumelden. Angesichts der besonderen Umstände war man sehr entgegenkommend gewesen. Das verlorene Trimester wurde ihr gutgeschrieben. Sie würde es ohne finanzielle Einbußen wiederholen können. Neben den Verhandlungen mit der Universität hatte sie auch Marian getroffen

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