Der gestohlene Abend
Grunde hat sie besser zu uns gepasst als David.« V Ich blieb überrascht stehen. r: »Wie meinst du das?«
»Wie soll ich sagen? Bei David konnte man manchmal den Eindruck haben, dass er De Vander nur deshalb so gründlich gelesen hat, weil er ihn widerlegen wollte.« »Ach, wirklich?«
»Jedenfalls ist er den letzten Schritt nie mitgegangen.« »Welchen Schritt?«
»Dass allem nur eine anonyme, stumme Struktur zugrunde liegt, die einfach nur da ist, so wie wir eben einfach nur da sind, ohne Ursprung und ohne Ziel, weder gut, noch schlecht, einfach nur da, wie ein Code, der endlos viele Botschaften generiert, die aber am Ende alle nur etwas über den Code aussagen und gar nichts über die Welt.« »Aha. Und glaubt Janine das auch?« »In diesem Punkt geriet sie jedenfalls oft mit David aneinander. Er sprach immer von einem Bewusstsein, als hätte es Marx, Freud und den Strukturalismus nie gegeben. Für uns war das längst erledigt, Schaum auf dem Meer. Janine sah das auch so. Menschen, wie David sie sich vorstellte, kamen bei uns einfach nicht mehr vor.«
So sollte Janine gedacht haben? Ich runzelte die Stirn. Ich wusste im Grunde sehr wenig über sie. Julie sprach weiter. »David kam mir oft vor wie ein Geologe, der bei seinen Bohrungen darüber verzweifelt, dass er keine Trollburgen und Drachenhöhlen findet. Vielleicht hat ihn das am Ende fertiggemacht, mehr als wir bemerkt haben. Dazu noch die Spannungen mit Janine. Möglicherweise kam das am letzten Dienstag alles zusammen?«
Sie schwieg einen Moment, bevor sie den Satz, der sie offenbar hatte zögern lassen, dann doch aussprach.
»Machst du dir Vorwürfe?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich wollte darüber nicht reden. Sie spürte es wohl.
»Sorry«, sagte sie. »Das war eine dumme Frage.«
»Es war kein Selbstmord, Julie. Nie und nimmer. Vielleicht hat er wirklich dieses Feuer gelegt. Es fällt mir schwer genug, das zu glauben. Aber niemand kann mir weismachen, dass er sterben wollte.«
Sie nickte. Dann sagte sie: »Wahrscheinlich hast du recht. Aber nach allem, was in den letzten Wochen geschehen ist, glaube ich, dass David De Vander und Marian gehasst hat. Er hasste es, dass er sie nicht widerlegen konnte. Er ertrug die Konsequenzen einfach nicht.«
»Und wie sehen die aus?«
»In einer Welt ohne Gewissheiten zu leben, als die traurigen biologischen und symbolischen Maschinen, die wir nun mal sind.«
»Das klingt ja furchtbar.«
»Warum? Es geht ja nicht viel anders weiter als zuvor. Nur aus einer anderen Haltung heraus.«
»Und wie sieht die aus?«
»Wir erzeugen noch immer die gleichen Vorstellungen: von Gott, Religion, Moral, von Gerechtigkeit, von Liebe oder von Sinn. Aber da wir wissen, dass wir sie erzeugen, haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, ihnen nicht mehr zum Opfer zu fallen. Sie kontrollieren nicht mehr uns, sondern wir sie. Indem wir begreifen, wie sie entstehen: durch die Sprache. Bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Sprache als ein transparentes Fenster zur Welt betrachtet. Dabei ist sie eine undurchdringliche Wand. Jeder Versuch, irgendetwas über die Welt auszusagen, kommt dem Versuch gleich, schneller als der eigene Schatten mit dem Fuß den Boden zu berühren.«
»Und was soll man also tun? Das Licht ausknipsen?« »Das ist gar nicht möglich. Die Surrealisten haben versucht, das Bewusstsein von der Sprache zu trennen. Die Dadaisten ebenso. Und viele andere Anti-Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, bis zur Beat-Generation mit ihren Drogenexzessen und Burroughs Slogan, die Sprache sei ein Virus aus dem All. Wir kommen aus der Sprache nicht heraus. Also müssen wir lernen sie auszuhalten, ohne auf sie hereinzufallen. Sprache kann gar nichts sagen. Das war De Vanders geniale Grundthese. Das ist auf den ersten Blick genauso verstörend, wie die Einsicht Freuds, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. Aber das heißt ja nicht, dass wir uns nicht mehr darum kümmern müssten. Im Gegenteil. Jetzt erst recht. Dass es kein Ich gibt, heißt ja nicht, dass es verschwunden wäre. Wir machen uns ständig Bilder von uns selbst, indem wir uns über uns selbst Geschichten erzählen. Das stellt unsere Identität her. Wir konstruieren Zusammenhänge und Abfolgen in unserem Leben, um daraus eine sinnvolle, lebenswerte Story herzustellen. Aber diese Story ist ebenso wenig real wie jedes andere Hirngespinst, das wir erzeugen. Literatur ist nur ein Sonderfall dieses Vorgangs. Im Grunde ist alles
Weitere Kostenlose Bücher