Der gestohlene Abend
welcher Sprache? Mit Abend oder mit gestohlen? Ich erinnerte mich vage, dass man bei der Suche nach Titeln, die aus mehreren Wörtern zusammengesetzt waren, beim ersten unflektierten Hauptwort zu beginnen hatte. The stolen evening wäre demnach unter evening zu suchen. Evening, Charles, Evening Standard Index, Evening as trope. In den fünfzig oder sechzig Karteikärtchen, die unter dem Schlagwort evening sortiert waren, fand sich kein stolen evening. Überhaupt hätte ich unter evening nur fündig werden können, falls Davids merkwürdige Zeile aus einem englischen Buchtitel stammte. De Vander war Belgier gewesen. Und in Belgien sprach man Flämisch und Französisch. Und Deutsch.
Ich griff nach einem Zettel und schrieb den Satz in drei Sprachen auf. The stolen evening. Der gestohlene Abend. Le soir Vole? Bei den Bibliografien gab es ein Regal mit Wörterbüchern. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte ich den Satz auch auf Niederländisch zusammengebastelt. De gestolen avond. Die grauen Rücken der MLA-Bibliografie standen keine drei Meter von mir entfernt. Aufs Geratewohl zog ich die letzten drei Jahrgänge heraus und schlug das Stichwortregister auf. 1986 ergab keine Eintragung, in keiner der Sprachen. Doch 1985 wurde ich fündig: Stolen Evening, The Le Soir Vole (8837).
Ich nahm den Hauptband zur Hand und suchte den Eintrag unter der genannten Nummer. Ich verglich die Nummern. Hatte ich mich verlesen? Aber nein. Es stimmte. Es musste eine falsche Spur sein. In diesem Abschnitt waren Aufsätze zu Comic-Literatur gelistet. Dinge wie Asterix und Obelix, Spiderman und Donald Duck. Es war mir neu, dass es dafür eine eigene Abteilung gab, Literaturwissenschaft über Comic-Figuren. Der Eintrag zur 8837 verwies auf einen Aufsatz.
Alignon, Frederic: »Le Mythe Herge«. Les Cahiers de l'Imaginaire 4,1985: 22-25. (Herge; behavior during occupation; publications in Le Soir Vole/ The Stolen Evening)
Es gab also eine Zeitschrift namens Le Soir Vole. Aber hatte David sich darauf bezogen? Und wer war Herge? Ich suchte das Umfeld der Eintragung ab. Das Wort Tintin tauchte mehrfach auf. Das kam mir irgendwie bekannt vor. Aber erst als ich Herge und den deutschen Namen seiner berühmtesten Figur im Großen Meyer gefunden hatte, begriff ich, wovon die Rede war: Vom Schöpfer von Tim und Struppi.
Ich ging zum Zeitschriftenkatalog. Aber weder Les Cahiers de l'Imaginaire noch Le Soir Vole waren dort gelistet. Auch der Berliner Gesamtkatalog führte die Zeitschriften nicht.
Kapitel 48
An Schlaf war in dem Sechserabteil nicht zu denken. Die Luft war stickig, einer meiner Mitreisenden schnarchte, und das ungleichmäßige Klopfen und Rattern der Räder taten ein Übriges. Einmal blieb der Zug längere Zeit stehen. Liege las ich auf einem Schild. Darunter stand: Luik. Im Streckenplan fand ich heraus, dass wir in Lüttich standen. Ein Ruck ging durch den Zug. Wir wurden hin und her rangiert. Einige Minuten später ertönte ein Piff, und die Eisenbahnwagen setzten sich quietschend in Bewegung. Der verlassene Bahnhof trieb vorbei. Er war in ein schmutziggelbes Licht getaucht. Dann wurde draußen alles schwarz, und ich sah mein Spiegelbild auf der Scheibe des Abteilfensters. Ich fand, ich sah furchtbar aus: übermüdet, mit zerzaustem Haar, Bartstoppeln und von der trockenen Abteilluft aufgesprungenen Lippen. Ich kramte in meinem Rucksack nach einem Fettstift und strich meine Lippen damit ein.
Zwei Stunden vor der Ankunft war ich hellwach. Ich wusch mich, putzte mir die Zähne, kämmte die feuchten Haare, legte Rasierwasser auf und zog frische Kleider an. Als Mitbringsel hatte ich am Bahnhof Zoo aus einer Laune heraus auch noch eine Packung Schnapspralinen gekauft, was mir jetzt ziemlich albern vorkam. Schnapspralinen und eine Brosche. Was für eine Zusammenstellung! Wenn ich wenigstens Blumen gehabt hätte.
Dreißig Minuten vor der Ankunft hielt es mich vor Nervosität und Ungeduld nicht mehr auf dem Sitz. Draußen war es dunkel, aber die beleuchteten Gassen und kleinen Straßen der Vorstädte waren schon zu sehen. Mein Gepäck stand längst an der Tür. Ich ging auf dem Gang hin und her, fuhr mir durch die Haare, von denen ich plötzlich fand, dass sie mir zu sehr am Kopf klebten. Dann war ich mir auf einmal sicher, dass sie nicht am Bahnhof sein würde. Es war so unwirklich, sie hier zu treffen.
Ich erkannte sie erst, als sie einen Strauß gelber Rosen hin und her schwenkte. Ihre Haare waren kurz geschnitten. Sie kam
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