Der gestohlene Traum
anzuziehen.
»Wohin gehst du?«, fragte Nastja überrascht.
»Man hat dir Medikamente verschrieben. Wo sind die Rezepte?«
»Aber du darfst nicht hinausgehen, Ljoschenka, du kommst sowieso nicht an ihm vorbei. Hast du nicht gehört, was die Ärztin gesagt hat? Er sitzt auf der Fensterbank im Treppenhaus.«
»Der kann mich mal«, brauste Tschistjakow auf. »Du stirbst mir hier noch weg, solange diese Bestien sich um ihre Beute streiten.«
Er öffnete mit demonstrativer Lautstärke das Türschloss und ging hinaus.
»He, du, Bullterrier!«, rief er ins Treppenhaus.
Eine Etage tiefer ertönten kaum hörbare Schritte, dann näherte sich, mehrere Stufen auf einmal nehmend, ein schmieriges hellblondes Bürschchen.
»Du gehst jetzt zur Apotheke«, befahl Tschistjakow ihm barsch. »Hier sind die Rezepte, hier ist das Geld. Und komm nicht auf die Idee, das Wechselgeld zu behalten.«
Das Bürschchen nahm die Scheine und die Rezepte und lief leichtfüßig, fast lautlos die Treppe hinunter.
»Und bring noch Brot mit, ein dunkles«, rief Ljoscha ihm hinterher.
»Warum reizt du ihn?«, fragte Nastja vorwurfsvoll, als Tschistjakow wieder zurück war. »Wir sind doch mit Haut und Haaren abhängig von ihnen. Besser ein fauler Frieden als ein offener Krieg.«
Ljoscha antwortete nicht, sondern ging mit raschen Schritten zum Fenster und sah hinunter auf die Straße.
»Da läuft er«, sagte er, während er der Gestalt hinterherblickte, die sich in sportlichem Trab in Richtung Apotheke entfernte.
»Aber es ist ein anderer. Offenbar werden wir von mindestens zweien bewacht. Eine sehr ernsthafte Organisation.«
»Ernsthafter geht es nicht«, erwiderte Nastja traurig. »Vielleicht sollte ich uns jetzt wenigstens etwas zu essen kochen. Guter Gott, wie konnte mir das nur passieren! Das Mädchen tut mir Leid, und Larzew auch.«
»Und du selbst tust dir nicht Leid?«
»Doch, das auch. Es war ein so interessanter Fall. Diese Nuss hätte ich nur zu gerne geknackt. Und Vika Jeremina tut mir auch Leid. Ich weiß nämlich, warum man sie umgebracht hat. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich sowieso darauf eingestellt, dass ich in dieser Geschichte nicht sehr weit kommen würde. Ich wusste nur nicht, in welchem Moment und auf welche Weise sie mich kaltstellen würden. Früher hätte mich der Kripochef zu sich gerufen und mich höflich aufgefordert, mich nicht mehr um diesen Fall zu kümmern, sondern Stattdessen einen anderen zu übernehmen, einen sehr viel brisanteren und schwierigeren, für dessen Aufklärung nur die Besten gut genug seien, und ich hätte mich geehrt fühlen müssen, weil seine Majestät mein Können und Wissen so hoch einschätzt und mich persönlich auserwählt hat, mich an der allgemeinen Hetzjagd nach dem schrecklichen, blutrünstigen Mörder zu beteiligen. So oder ähnlich jedenfalls. Und Knüppelchen hätte mir mit einem schweren Seufzer geraten, mich deshalb nicht zu grämen, aber innerlich hätte er vor Wut gekocht und trotzdem weitergemacht, natürlich heimlich und ohne mich, um mich vor dem Zorn der Obrigkeit zu schützen. Früher wusste man alles im Voraus. Man kannte ihre Methoden und die eigene Reaktion darauf. Aber heute würde sich selbst der Teufel ein Bein brechen, wenn er kapieren wollte, wann, wo, wie und von wem du an der Gurgel gepackt wirst. Und es gibt keinerlei Schutz vor ihnen. Auf einen armen Milizionär kommen heutzutage zu viele Reiche, und für ihr Geld kaufen sie sich Schergen, die uns unter Druck setzen. Wir würden auch dann nicht auskommen, wenn wir über Nacht die edelsten und genügsamsten Menschen der Welt würden, die sich glücklich schätzen würden, ihr halbes Leben langmit ihren Kindern und kranken alten Eltern in einer Einzimmerwohnung hausen zu dürfen. Aber wozu reden! Du hast Recht, Ljoscha: Die Bestien streiten sich um ihre Beute. Und eine junge Frau musste sterben . . .
* * *
Während Tamara Sergejewna die Adressen der Kranken durchsah, die sie heute besuchen musste, und dabei versuchte, die Fahrstrecken so sinnvoll wie möglich miteinander zu verbinden, stellte sie fest, dass eine der Adressen sich ganz in der Nähe ihrer Wohnung befand. Das passte gut. Sie beschloss, nach dem Hausbesuch kurz zu ihrer Wohnung zu fahren, eine Tasse Tee zu trinken und bei dieser Gelegenheit Gordejew anzurufen. Tamara Sergejewna wohnte sehr weit entfernt von der Poliklinik, wenn ihr Arbeitstag um acht Uhr begann, musste sie sehr zeitig aufstehen, und gegen elf Uhr war sie meistens sehr
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