Der gestohlene Traum
enttäuschte sie. Nur eine einzige Krankschreibung in acht Jahren, und selbst die im Zusammenhang mit einer Noteinlieferung ins Krankenhaus aufgrund eines Kreislaufzusammenbruchs. Die Ergebnisse der alljährlichen Vorsorgeuntersuchungen waren allerdings durchaus inspirierend. Chronische Rückenbeschwerden aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung. Kreislaufdystonie. Herzrhythmusstörungen. Schlaflosigkeit. Chronische Bronchitis. Schlechte Blutwerte aufgrund verschleppter Virusinfektionen (was natürlich kein Wunder war, wenn die Patientin sich nie krankschreiben ließ, um eine Grippe auszukurieren). Als der Wagen sich dem Haus in der Stschelkowskij-Chaussee näherte, wusste Tamara Sergejewna bereits, was sie in die Patientenakte eintragen und welche Diagnose sie der 1960 geborenen A. P. Kamenskaja aller Voraussicht nach stellen würde.
Mehr denn einer Ärztin glich die kleine, füllige Ratschkowa mit den kurzen dicken Beinchen, dem kurz geschnittenen grauen Haar und den dicken Brillengläsern einer Charakterschauspielerin im Komödienfach. Sie hätte eine illegale Schnapsbrennerin spielen können, eine alte Wucherin, eine Kupplerin oder eine ähnlich unsympathische Rolle. Nur wer sie näher kannte, wusste um ihren Scharfsinn und lebendigen Humor und konnte sich vorstellen, dass sie einmal eine ausgesprochen anziehende, reizvolle junge Frau war. Der Ehemann von Tamara Sergejewna erinnerte sich daran noch sehr gut, er schätzte seine Frau und liebte sie zärtlich.
Während die Ratschkowa Nastja untersuchte, ihr den Blutdruck maß, den Puls fühlte und das Herz abhorchte, dachte sie daran, dass es der jungen Frau tatsächlich nicht schaden würde, sich in einer Klinik behandeln zu lassen. Ihr Gesundheitszustand war nicht der beste.
»Sie sollten für eine Weile ins Krankenhaus gehen«, sagte sie, ohne den Kopf von der Patientenakte zu heben, in die sie die Untersuchungsergebnisse eintrug. »Einen Kreislaufzusammenbruch hatten Sie ja schon, es sieht so aus, als würde es bis zum nächsten nicht mehr sehr lange dauern.«
»Nein«, sagte Nastja schnell und bestimmt. »Ich will nicht ins Krankenhaus.«
»Warum nicht?«
Die Ärztin legte die Patientenakte weg und griff in ihre Tasche, um ein Formular für die Krankschreibung herauszuholen. »Unsere Klinik ist sehr angenehm. Sie werden ein bisschen liegen und sich ausruhen, das wird Ihnen gut tun.«
»Nein«, sagte Nastja erneut, »ich kann nicht.«
»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht? Ihr Chef, Oberst Gordejew, ist übrigens sehr besorgt um Ihre Gesundheit. Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er nichts dagegen hat, wenn Sie für eine Weile ins Krankenhaus gehen. Er braucht Sie nicht krank, sondern gesund.«
Nastja schwieg, verkroch sich tiefer in ihren warmen Morgenmantel und zog sich eine Wolldecke über die Beine.
»Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht. Vielleicht später, in ein paar Monaten, aber jetzt geht es nicht. Haben Sie heute mit Gordejew gesprochen?«
»Ja, er hat mich angerufen und mich gebeten, Ihnen einen Hausbesuch zu machen, da Sie ihm mitgeteilt haben, dass Sie krank sind.«
Die Ratschkowa setzte ihre Unterschrift unter das Formular, packte Blutdruckmesser und Stethoskop wieder ein und sah Nastja aufmerksam an.
»Gordejew macht sich Sorgen um Sie. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Richten Sie ihm aus, dass er völlig Recht hatte. Und sagen Sie ihm noch, dass ich sehr gern etwas tun würde, aber ich kann nicht, mir sind die Hände gebunden. Ich habe mein Wort gegeben und muss mich daran halten. Ich danke ihm für seine Fürsorge. Und Ihnen ebenfalls.«
»Bitte«, erwiderte die Ärztin mit einem Seufzer und erhob sich schwerfällig. »Übrigens, der junge Mann auf der Fensterbank im Treppenhaus . . . ist das vielleicht Ihr Verehrer?«
»Ich glaube, schon«, sagte Nastja mit einem schmalen Lächeln.
»Ist Ihr Mann darüber im Bilde?«
»Ja, natürlich, obwohl er nicht mein Mann ist.«
»Darauf kommt es nicht an. Soll ich Gordejew Bescheid sagen?«
»Sagen Sie es ihm ruhig.«
»Gut, ich werde es ihm sagen. Kurieren Sie sich aus, Anastasija Pawlowna, ich meine das völlig ernst. Sie treiben Raubbau mit Ihrer Gesundheit, das dürfen Sie nicht. Nutzen Sie die Gelegenheit, da Sie im Moment sowieso zu Hause sind, nehmen Sie die Medikamente, die ich Ihnen verschrieben habe, schlafen Sie sich aus. Und essen Sie ordentlich, Sie sind zu dünn.«
Nachdem die Ratschkowa wieder gegangen war, begann Ljoscha, sich wortlos
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