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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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einen großen Schluck von dem glühend heißen Tee und biss herzhaft in das dick mit Butter und Orangenmarmelade bestrichene Milchbrötchen. Sie liebte von jeher alles, was süß und aus Teig war.
    * * *
    Diese Halunken, schimpfte Gordejew innerlich, während er langsamen, trägen Schrittes von der Metro zur Petrowka ging. Trotz des bevorstehenden neuen Jahres herrschte in Moskau nasskaltes Schmuddelwetter, der nur gelegentlich fallende Schnee taute sofort und vermischte sich mit dem Matsch und dem Wasser auf den Straßen. Der Himmel war grau und schwer, und ebenso war die Stimmung von Oberst Gordejew. Er ging mit hängenden Schultern, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Blick auf den Boden geheftet.
    Womit erpressten sie Nastja? Es musste etwas sehr Einfaches, aber Wirkungsvolles sein. Solange sie noch vorsichtig aus dem Hintergrund agierten, hatte Nastja sich ihnen, so gut es ging, entzogen. Aber jetzt hatten sie den direkten Weg gewählt, ohne jede Zurückhaltung und Scham.
    Und noch etwas anderes ließ Viktor Alexejewitsch keine Ruhe. Warum hatte Nastja die Hilfe von Tamara Sergejewna Ratschkowa nicht in Anspruch genommen? Über sie hätte sie Gordejew jede beliebige Information zukommen lassen können, in mündlicher oder schriftlicher Form, und dann wäre ihm, Gordejew, schon etwas eingefallen. Warum hatte sie das nicht getan? Es konnte nicht daran liegen, dass sie nur ganz einfach nicht auf diese Idee gekommen war, dazu kannte Knüppelchen Nastja zu gut. Das war ausgeschlossen. Was hatte sie gehindert? Gordejew hatte das Gefühl, dass sich in dieser Tatsache als solcher die entscheidende Information verbarg. Genau damit, dass Nastja ihm praktisch nichts Neues und Wichtiges hatte ausrichten lassen, wollte sie ihm etwas sagen. Aber was? Was war es nur?
    Knüppelchen beschleunigte abrupt seinen Schritt, stürzte durch die dämmerigen Korridore der Petrowka, riss die Tür zu seinem Büro auf, warf den feucht gewordenen Mantel über einen Stuhl und rief seinen Stellvertreter zu sich.
    »Was gibt es Neues?«, fragte er außer Atem.
    »Nichts Besonderes«, erwiderte Sherechow. »Die übliche Routine. Ich habe heute Morgen an deiner Stelle die Einsatzbesprechung geleitet. Lesnikow hat die Vergewaltigung im Bizewskij-Park aufgeklärt, der Untersuchungsführer ist sehr zufrieden. Selujanow ist wieder einmal im Suff, er kommt erst gegen Abend ins Büro. Er war vorgestern bei seinen Kindern und ist, wie immer nach diesen Besuchen, in eine tiefe Depression gefallen. Wir müssen den Mord an einem Vorstandsmitglied der Junost-Bank aufklären, ich habe die Ermittlungen Korotkow und Larzew übertragen. Die Kamenskaja ist krank. Alle anderen sind gesund und am Leben und machen ihre übliche Arbeit. Wie geht es deinem Zahn?«
    »Meinem Zahn?« Gordejew zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ach so, ja, danke der Nachfrage. Ein Nerv hat blank gelegen, man hat mir eine Arseneinlage gemacht.«
    »Warum machst du mir etwas vor, Viktor?«, fragte Sherechow mit leiser Stimme. »Du hast keine Zahnschmerzen und warst auch nicht beim Zahnarzt. Seit wann lügst du mich an?«
    Da haben wir es, dachte Gordejew, jetzt muss ich Pawel etwas erklären. Guter Gott, womit habe ich das verdient? Warum muss ich ständig lügen, etwas verheimlichen, verschweigen? Warum kann ein Ingenieur oder Schlosser es sich erlauben, offen und ehrlich zu leben und nachts ruhig zu schlafen, und warum kann ich es nicht? Welch ein schrecklicher Beruf, von Gott verflucht und von den Menschen verachtet. Ach Pawel, Pawel, ich kenne dich nun schon fast zwanzig Jahre, du bist meine rechte Hand, meine Hoffnung und meine Stütze. Ich habe dir immer vertraut, Pawel, und in diesen zwanzig Jahren hast du mich kein einziges Mal enttäuscht. Wir sind sehr unterschiedlich, immer streitest du mit mir und lässt meine Argumente nicht gelten. Aber in unseren Auseinandersetzungen schärft sich der Blick für die richtigen Kombinationen und Vorgehensweisen, obwohl ich dich manchmal, ehrlich gestanden, am liebsten umbringen würde. Du hast keine Phantasie, keine Kreativität, dir fehlt die innere Weite, die Leidenschaft, alles das, was ich in einem fast gefährlichen Überfluss besitze. Du bist ein Pedant und Paragraphenreiter, ein Langweiler und Haarspalter, ein Erbsenzähler und Nörgler, laut Pass bist du acht Jahre jünger als ich, aber im wirklichen Leben bist du mindestens siebzig. Wir sind sehr unterschiedlich, aber all diese Jahre habe ich dich geliebt und dir

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