Der gestohlene Traum
hungrig.
Als sie die Wohnung betrat, vernahm sie sofort die Stimmen aus dem Wohnzimmer. Schon wieder die Philatelisten, dachte sie. Ihr Mann war vor kurzem in Rente gegangen und hatte sich mit Haut und Haaren seinem Hobby verschrieben. Er beschäftigte sich nur noch mit dem Tausch von Briefmarken, mit Käufen und Verkäufen, besuchte Ausstellungen und Konferenzen, las Fachliteratur und hielt sogar Vorträge. In der Wohnung waren ständig Besucher, das Telefon läutete unentwegt, Tamara blieb oft tagelang unerreichbar für ihre Kinder, Freunde und Kollegen. Schließlich gelang es den Ratschkows, über Beziehungen und mit Hilfe kleiner Geschenke ein zweites Telefon in ihrer Wohnung installieren zu lassen, mit einer eigenen Nummer für die Philatelisten. Seitdem verlief das Leben wieder in normalen Bahnen.
So leise es in Anbetracht ihrer Leibesfülle möglich war, ging Tamara Sergejewna in die Küche, zündete das Gas unter dem Wasserkessel an und wählte Gordejews Nummer.
»Es steht schlecht um Ihre Kamenskaja«, sagte sie mit halblauter Stimme.
»Was ist los mit ihr?«, fragte Knüppelchen aufgeregt.
»Erstens ist sie wirklich krank, ich habe ihr ganz ernsthaft geraten, sich in die Klinik einweisen zu lassen, dafür gibt es gute Gründe.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Sie hat kategorisch abgelehnt.«
»Aus welchem Grund?«
»Sie wird überwacht, und zwar völlig offen und ungeniert. Das war das Zweite. Und drittens hat sie mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Sie völlig Recht hatten. Sie würde gern etwas unternehmen, aber sie kann leider nicht, da sie jemandem ihr Wort gegeben hat und sich daran halten muss.«
»Wem hat sie ihr Wort gegeben?«
»Ich habe Ihnen alles Wort für Wort ausgerichtet, Viktor Alexejewitsch. Mehr hat sie nicht gesagt.«
»Konnten Sie sich ein persönliches Bild von der Lage machen, Tamara Sergejewna?«
»Nun ja, mehr oder weniger . . . Die Kamenskaja ist bedrückt und niedergeschlagen, sie weiß, dass sie überwacht wird. Offenbar hat sie die Einweisung ins Krankenhaus abgelehnt, weil man ihr angedroht hat, dass jemand von ihren Nächsten in Schwierigkeiten gerät, wenn sie das Haus verlässt.«
»Ist sie allein in der Wohnung?«
»Nein, irgendein zotteliger rothaariger Mann ist bei ihr.«
»Ich kenne ihn, es ist ihr Mann.«
»Es ist nicht ihr Mann«, widersprach die Ratschkowa, die es gewohnt war, die Dinge beim Namen zu nennen.
»Dann nennen wir ihn eben ihren Freund. Von wem wird sie überwacht?«
»Ein junger Mann mit dem Gesicht eines Cherubs. Er sitzt auf der Fensterbank im Treppenhaus.«
»Haben Sie sonst noch jemanden bemerkt?«
»Ich habe, ehrlich gesagt, nicht darauf geachtet. Mir ist auch dieser eine nur deshalb aufgefallen, weil er mir gefolgt ist, um zu sehen, ob ich zur Kamenskaja gehe.«
»Ziemlich dreist«, bemerkte Viktor Alexejewitsch.
»Ich sage Ihnen doch, sie versuchen gar nicht, sich zu verbergen. Ich glaube, sie wollen so Druck auf sie ausüben.«
»Das ist durchaus möglich«, stimmte der Oberst nachdenklich zu. »Ich danke Ihnen, Tamara Sergejewna. Sie können sich gar nicht vorstellen, was Sie für mich getan haben.«
»Doch, ich kann es mir durchaus vorstellen«, sagte die Ratschkowa mit einem wissenden Lächeln.
Sie legte auf, ging zum Herd, um das Gas unter dem kochenden Wasser abzustellen, und bemerkte ihren Mann, der gerade die Küche betrat.
»Ich habe dich gar nicht gehört, Mamotschka«, sagte er und küsste seine Frau auf den grauen Scheitel.
»Wie solltest du mich auch hören, wenn hier wieder eine Philatelistenversammlung stattfindet. Du würdest es nicht einmal merken, wenn man die Wohnung ausräumt, bei diesem Lärm.«
»Das stimmt nicht«, sagte ihr Mann beleidigt, »so laut war es nun auch wieder nicht. Bist du ganz nach Hause gekommen?«
»Nein, ich trinke nur eine Tasse Tee, dann muss ich wieder los. Ich habe heute viele Hausbesuche zu machen, es ist wieder einmal eine Grippeepidemie im Anmarsch.«
»Und einfach so, über Nacht, werden plötzlich alle Leute krank?«, fragte der Mann skeptisch. Für ihn gab es nur zwei Krankheiten, die er ernst nahm, Herzinfarkt und Schlaganfall. Alles andere hielt er für fadenscheinige Vorwände, um sich vor der Arbeit zu drücken.
»Die meisten deiner Patienten sind wahrscheinlich Simulanten. Sie wollen bei so scheußlichem Wetter einfach nicht zur Arbeit gehen und jagen deshalb eine alte Frau durch die Gegend.«
Tamara Sergejewna zuckte schweigend mit den Schultern, nahm
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