Der gestohlene Traum
vertraut. Was soll ich jetzt tun? Hast du einen Rat für mich?
Sich innerlich bekreuzigend, traf Oberst Gordejew eine Entscheidung.
»Es ist so, Pawel. . .«, begann er mit gleichmäßiger, leidenschaftsloser Stimme, gegen das innere Zittern und den Verdacht ankämpfend, dass auch Sherechow zu ihnen gehören könnte.
Sherechow hörte seinem Chef zu, ohne ihn zu unterbrechen. Seine kleinen dunklen Augen funkelten vor Aufmerksamkeit, seine immer etwas nach vorn gebeugten Schultern waren jetzt so eingezogen, dass es schien, als hätte er keinen Hals und keine Brust.
Je länger Viktor Alexejewitsch sprach, desto schmaler wurden Sherechows Lippen, bis der feine, akkurate Strich seines Lippenbartes ganz mit dem Kinn verschmolzen war. Er wirkte jetzt zutiefst hässlich, wie ein Iltis, der alle seine Muskeln angespannt hatte, bereit zum Angriff.
Als Gordejew geendet hatte, schwieg sein Stellvertreter eine Weile, dann seufzte er tief, bog seine Schultern gerade, löste die ineinander verklammerten Finger und begann mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen verspannten Rücken zu reiben.
»Was hast du dazu zu sagen, Pawel?«, durchbrach Gordejew das Schweigen.
»Vieles. Das Erste tut nichts zur Sache, aber ich sage es trotzdem, weil wir schon lange Zusammenarbeiten und es, so Gott will, noch eine Weile so bleiben wird. Du verdächtigst alle, unter anderen auch mich. Es ist dir sehr schwer gefallen, dich heute zu einem Gespräch mit mir zu entschließen, weil du nicht weißt, ob Larzew der Einzige ist, den sie in ihrer Gewalt haben. Du bist dir auch jetzt nicht sicher, ob es kein Fehler war, mich in den Fall Jeremina einzuweihen. Aber ich möchte, dass du eins weißt, Viktor: Ich bin dir nicht böse. Ich verstehe, wie schwer es für dich ist, alle verdächtigen zu müssen, die du liebst und schätzt. Aber du musst zugeben, dass das zu den dunklen und, wenn du so willst, schmutzigen Seiten unseres Berufes gehört. Das ist so, daran können wir nichts ändern. Und deshalb braucht dir die Sache nicht peinlich zu sein. Das alles hast nicht du dir ausgedacht, du bist daran nicht schuld.«
»Ich danke dir, Pawel«, sagte Gordejew leise.
»Keine Ursache«, erwiderte Sherechow lächelnd. »Jetzt das Zweite. Sag mir, was du willst, Viktor.«
»Wie meinst du das?«
»Du stehst vor zwei Problemen. Das eine ist der unaufgeklärte Mord an der Jeremina, das zweite sind deine Mitarbeiter. Du kannst diese zwei Probleme nicht gleichzeitig lösen, dafür reichen unsere Kräfte nicht. Deshalb frage ich dich, welches von den beiden Problemen du lösen und welches du vernachlässigen willst.«
»Du hast dich verändert, Pawel«, bemerkte Gordejew. »Ich erinnere mich daran, dass wir uns vor einem Jahr fast zerstritten hätten, weil ich der Meinung war, dass man darauf verzichten sollte, einen Auftragskiller zu fassen, wenn man dadurch erfahren könnte, wie die Organisation funktioniert, für die er arbeitet. Du hast mir damals kategorisch widersprochen und mir die Rache des Himmels prophezeit, weil ich die Interessen der Rechtsprechung verrate. Hast du das vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht vergessen. Allerdings ist das nicht ein Jahr her, sondern schon anderthalb. Du warst immer schon schneller als ich und hast neue Tendenzen und Veränderungen sofort erfasst, deshalb bist von uns beiden auch du der Chef und nicht ich. Du weiß doch, dass ich eine lange Leitung habe, Viktor. Das, was du schon vor einem Jahr gewusst hast, beginne ich erst jetzt zu ahnen. Sag mir, was du vorhast. Willst du den Mordfall Jeremina aufklären oder nicht?«
»Ehrlich?«
»Ja, ehrlich.«
»Ehrlich gesagt, nein. Ich könnte es, aber ich will nicht.«
»Warum?«
»Mir tun die Menschen Leid. Der Mann, der so viel in Bewegung gesetzt hat, um eine Vergewaltigung zu vertuschen, die längst verjährt ist, und dafür sogar ein neues Verbrechen begangen hat -so ein Mensch macht vor nichts Halt. Das Gefängnis brauchte er nicht zu fürchten, weil das Opfer keine Anzeige erstattet hat, man hätte ihn keinesfalls zur Verantwortung ziehen können. Es ist auch nicht strafbar, Manuskripte ins Ausland zu schaffen und dort zu veröffentlichen, so hoch die Einnahmen auch sind, das ist freies Autorenrecht. Aber wenn er so erschrocken ist, dass er beim ersten Geruch nach Angebranntem sofort das Mädchen ermorden ließ, dann bedeutet das, dass sein Ruf in Gefahr geraten ist und dass dieser Ruf ihm viel kostbarer ist als die Freiheit. Aber etwas Kostbareres als die Freiheit
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