Der gestohlene Traum
an, wer die Tat begangen hatte, mit dem Warum und Weshalb sollte sich gefälligst das Gericht herumschlagen. So war Hauptmann Morozow nun einmal, und vielleicht bestand darin der größte Unterschied zwischen ihm und Nastja Kamenskaja, die unbedingt herausfinden wollte, was Vika Jeremina gewusst oder getan hatte, dass sie mit ihrem Leben dafür bezahlen musste.
* * *
Nach Nastjas frühmorgendlichem Anruf beschloss Viktor Alexejewitsch Gordejew, erst einmal nicht ins Büro zu gehen.
»Ich habe heute Nacht Zahnschmerzen bekommen«, teilte er Pawel Sherechow, seinem Stellvertreter, kurz angebunden mit. »Ich muss zum Arzt. Wenn jemand nach mir fragt – ich komme erst am Nachmittag ins Büro.«
Nachdem seine Frau zur Arbeit gegangen war, begann Gordejew in der Wohnung umherzugehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nastjas Telefon wurde abgehört, das hatte man bereits festgestellt. Was war geschehen? Wer hatte sie so in die Enge getrieben? Wer und mit welchen Mitteln? Er musste irgendeine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit ihr finden . . . Sie hatte gesagt, dass sie krank sei und einen Arzt rufen müsse. Man konnte es versuchen, Probieren ging über Studieren. Knüppelchen stürzte zum Telefon.
»Aufnahme«, sagte eine gleichgültige weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hier spricht Oberst Gordejew, Abteilungsleiter der Kripo«, stellte Viktor Alexejewitsch sich beherzt vor. »Sagen Sie bitte, hat meine Mitarbeiterin, die Majorin Kamenskaja, heute um den Hausbesuch eines Arztes gebeten?«
»Wir geben keine Auskunft«, erwiderte die Stimme unverändert gleichgültig.
»Wo kann ich so eine Auskunft einholen?«, fragte Gordejew. Doch die Dame am anderen Ende hatte bereits aufgelegt.
Verdammtes Miststück, fluchte Gordejew laut und wählte eine andere Nummer.
»Gesundheitsvorsorge. Guten Tag.«
Diese Stimme schien Viktor Alexejewitsch vielversprechender zu klingen.
»Guten Tag, hier spricht Oberst Gordejew von der Kripo«, sagte Knüppelchen kleinlaut, belehrt von der schlechten Erfahrung mit der Vorgängerin, und machte eine Pause.
»Guten Tag, Viktor Alexejewitsch«, erwiderte die Stimme, und der Oberst atmete erleichtert auf. Er war auf jemanden gestoßen, der ihn kannte. Alles Weitere würde jetzt einfacher sein.
Für alle Fälle gab er noch seiner Freude darüber Ausdruck, dass man ihn in der Poliklinik kannte, und ging erst dann zum Eigentlichen über. Bevor er einen Arzt an den Apparat bekam, der für Hausbesuche zuständig war, musste er noch sechs Anrufe machen, aber endlich war er am Ziel.
»Sie haben Glück, dass Sie mich noch erwischt haben«, sagte die Ärztin Ratschkowa, »ich war schon in der Tür.«
Schweigend, ohne ihn zu unterbrechen, hörte sie sich Gordejews wirre, nebulöse Erklärungen an.
»Jetzt werde ich wiederholen, was Sie gesagt haben. Sie möchten, dass ich der Kamenskaja von Ihrem Anruf berichte und sie frage, ob sie Ihnen etwas ausrichten möchte. Ich soll sie ungeachtet ihres tatsächlichen gesundheitlichen Zustandes für so lange wie möglich krankschreiben. Darüber hinaus soll ich eine Ein-, Weisung in die Klinik in Erwägung ziehen und das mit der Patientin besprechen. Für den Fall, dass sie damit einverstanden ist, soll ich von ihrem Telefon aus in der Klinik anrufen. Und schließlich soll ich nach Möglichkeit herausfinden, ob sie unter jemandes Einfluss handelt oder nicht. Ist alles richtig?«
»Ja, alles ist richtig«, bestätigte Gordejew mit einem Seufzer der Erleichterung. »Fahren Sie gleich zu ihr und rufen Sie mich anschließend sofort an, ich bitte Sie sehr darum, Tamara Sergejewna. Ich muss wissen, was vor sich geht.«
»Und natürlich darf ich Sie nicht von ihrer Wohnung aus anrufen, habe ich das richtig verstanden?«
»Völlig richtig. Ich danke Ihnen, Tamara Sergejewna.«
Viktor Alexejewitsch legte den Hörer auf, ließ sich auf dem Sofa nieder, stellte einen Wecker vor sich auf den Tisch und begann zu warten.
* * *
Tamara Sergejewna Ratschkowa hatte dem Fahrer die Adresse genannt und begann, in der Patientenakte der Kamenskaja zu blättern. Sie wollte eine möglichst einfache und glaubhafte Diagnose erfinden, ohne viel Zeit darauf zu verwenden. Tamara Sergejewna hatte in ihrem Leben schon einiges hinter sich, mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie bereits seit vier Jahrzehnten im Dienst staatlicher medizinischer Einrichtungen. Deshalb hatte Gordejews Bitte sie nicht sonderlich schockiert.
Die Patientenakte der Kamenskaja
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