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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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dass er am ersten Dezember anfangen wird, aber bis jetzt ist er nicht bei mir aufgetaucht. Vielleicht haben sie es sich überlegt und ihm eine andere Praktikantenstelle zugewiesen. Da hast du wieder ein Beispiel«, sagte der Alte ärgerlich. »Man kann sich auf niemanden mehr verlassen. Da wird man um einen Gefallen gebeten, und dann hört man einfach nichts mehr. Man teilt mir nicht einmal mit, dass ich nicht mehr gebraucht werde. Mir kann es ja egal sein, wenn nicht, dann nicht, aber Ordnung muss sein. Was meinst du dazu, Oberst?«
    Nafanjas Worte erreichten Morozow wie durch Watte. Er erinnerte sich an den Praktikanten Mestscherinow, den er einmal hatte sagen hören, er sei im letzten Moment zur Petrowka gekommen. Eigentlich hätte man ihm bereits eine Praktikantenstelle im nördlichen Bezirk zugewiesen.
    Wer musste ein ganz gewöhnlicher Student der Polizeihochschule sein, dass man sich so rührend um ihn kümmerte? Mindestens der Sohn des Innenministers. Oder . . . Morozow hatte sich ohnehin gewundert, dass die Nebelkrähe von der Petrowka den Fall plötzlich aufgegeben hatte. Warum hatte sie das getan? Hatte sie womöglich der Praktikant so durcheinander gebracht? Hatte er ihr vielleicht ebenfalls Informationen vorenthalten, wie auch er, Morozow selbst, nur mit einer anderen Absicht? Mit welcher Absicht? Die Antwort auf diese Frage war nicht nur unangenehm, sondern ausgesprochen beängstigend.
    Und noch beängstigender erschien Morozow nun der morgige Tag. Wenn in den Mordfall Jeremina solche Mächte verwickelt waren, dann war es möglich, dass er, Jewgenij, den morgigen Tag gar nicht mehr erleben würde. Er hatte mit dem Kopf durch die Wand gehen wollen, hatte sich etwas auf seine Professionalität eingebildet, auf seine Erfahrung, seine Zähigkeit, darauf, dass es ihm gelungen war, die Kamenskaja auszubooten. Aber in Wahrheit war er schon die ganze Zeit an einem Abgrund entlanggegangen, und es erschien ihm jetzt wie ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war.
    Schon heute oder spätestens morgen würden die entsprechenden Leute von Nafanja erfahren, dass er, Morozow, sich für Djakow interessierte, und dann würde er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Sollte er den Alten bitten, die Sache für sich zu behalten? Dann würde er erst recht seinen Gönner von der örtlichen Miliz informieren, und wahrscheinlich nicht nur den.
    »Was ist mit dir, Oberst?«, fragte Nafanja. »Warum bist du plötzlich so nachdenklich?«
    »Nur so«, erwiderte der Hauptmann matt. »Es wird Zeit zum Abtreten für mich, ich bin müde. Die Rente ist mir schon sicher, wozu den Karren noch weiterziehen. Mit den Jungen komme ich sowieso nicht mehr zurande, sie bringen mich nur unter die Erde. Ich bin zu dir gekommen, um dich nach diesem Djakow zu fragen, aber in Wirklichkeit denke ich an meinen Garten, an das neue Treibhaus, das ich brauche. Allein kann ich es nicht bauen, und um einen Handwerker zu bezahlen, fehlt mir das Geld. Und überhaupt . . .«
    Nachdem Morozow auf die Straße hinausgetreten war, in die kalte Luft, fasste er wieder etwas Mut. Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über Oleg Mestscherinow wusste, wie er ging, wie er sprach, wie er arbeitete. Doch sosehr er sein Gedächtnis auch anstrengte, er konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken, dass der Praktikant die Aufklärung des Falles hintertrieb. Dafür sah er jetzt glasklar vor sich, dass die Nebelkrähe niemandem traute, auch dem Praktikanten nicht.
    Hat sie etwa schon damals gewusst, dass er auf der anderen Seite steht?, fragte er sich. Die Gedanken des Hauptmannes begannen sich sehr schnell zu verwirren, er konnte komplizierte Zusammenhänge nicht durchschauen, dazu besaß er nicht genug Scharfsinn und analytische Fähigkeit. Er verfluchte sich für seine Begriffsstutzigkeit, versuchte, alles noch einmal von vorn aufzurollen, und begriff plötzlich, dass es sinnlos war. Heute wurden ganz andere Verbrechen begangen als früher, und mit den alten Methoden kam man ihnen nicht mehr bei. Heute brauchte man solche wie die Kamenskaja, die ausländische Bestseller las und tagelang in uralten Akten im Archiv herumwühlte. Und er hatte versucht, die Täter auf die alte Weise, mit seinen nackten Händen, zu fassen, er hatte versucht, im Alleingang einen Mordfall aufzuklären und es mit Leuten aufzunehmen, die sogar ihre eigenen Praktikanten bei der Kripo hatten. Es war tatsächlich ein Wunder, dass er noch lebte.
    Hauptmann Jewgenij Morozow bestieg

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