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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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wenn es darum geht, das eigene Leben zu retten.
    »Was ist mit dir?«, fragte Ljoscha bestürzt, als er seine Freundin sah.
    »Was soll sein?«
    »Von dir geht eine Kälte aus wie von einem Kühlschrank. Und dein Gesicht ist irgendwie . . .«
    »Wie?«
    Sie durfte sich kein Lächeln erlauben, um nicht aus ihrer Rolle herauszufallen.
    »Fremd. Deins und doch nicht deins. Wie das einer Schneekönigin.«
    »So ist es genau richtig. Ich gehe jetzt. Verhalte dich bitte ruhig, mische dich nicht ein.«
    Sie öffnete entschlossen die Wohnungstür und blieb auf der Schwelle stehen. Sofort wurden leise Schritte von unten hörbar, auf der Treppe erschien der blonde Kopf eines sympathischen jungen Mannes mit hellblauen Augen und vollen Lippen. Das engelhafte Gesicht konnte Nastja nicht täuschen. Sie bemerkte sofort die geschmeidigen Bewegungen des Mannes, seine ausgeprägte Muskulatur, seinen gespannten, eingezogenen Nacken.
    »Komm näher«, sagte sie mit halblauter Stimme.
    »Warum?«, fragte der Mann ebenso halblaut und rührte sich nicht von der Stelle.
    »Komm näher, habe ich gesagt.«
    Der metallische Klang in Nastjas Stimme ließ den Mann gehorchen. Er nahm ein paar Stufen nach oben, hielt inne, holte seinen Revolver hervor und machte noch zwei Schritte auf Nastja zu.
    »Sag ihnen, dass sie mich anrufen sollen«, sagte Nastja kalt.
    »Wem soll ich das sagen?«, fragte der Mann verblüfft.
    »Das soll nicht meine Sorge sein. Ich brauche Djakow. Sie sollen ihn zu mir schicken.«
    »Warum?«
    »Das wiederum soll nicht deine Sorge sein. Du bist nur ein billiger Handlanger, dem man nicht mehr zutraut, als mich zu bewachen. Sie sollen mich anrufen, und ich werde ihnen sagen, warum ich Djakow brauche. Ich warte zehn Minuten.«
    Sie trat zurück in den Wohnungsflur und schloss die Tür. Nicht zu heftig, um nicht den Anschein von Nervosität zu erwecken, aber auch nicht zu sacht.
    »Nastja, was geht hier vor?«, fragte Ljoscha bestimmt und versperrte ihr den Weg.
    »Nicht jetzt«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, schob ihn zur Seite, ging ins Zimmer und blieb vor dem Fenster stehen.
    Ljoscha ging in die Küche und schlug die Tür zu. Was bin ich doch für ein Miststück, dachte Nastja. Aber vielleicht ist es besser so. Eine Primadonna in einem Provinztheater. Halt die Ohren steif, Mädchen, entschuldigen kannst du dich später. Zwei Minuten waren schon vergangen, blieben noch acht. Das Bürschlein, das die Medizin aus der Apotheke geholt hatte, lief die Straße entlang und verschwand hinter einer Ecke. Wahrscheinlich lief er zur Telefonzelle. Oder zu einem Wagen mit Autotelefon. Wir werden sehen, ob ich Recht hatte, dachte Nastja. Die Beamten, die den Mann beobachtet haben, der mich in der Poliklinik gesucht hat, haben festgestellt, dass dieser Mann immer um eine bestimmte Uhrzeit irgendwo anrief, aber nie mit jemandem sprach. Irgendein schlaues Kommunikationssystem ohne persönliche Kontaktaufnahme. Ob es auch diesmal funktionieren wird? Wenn ich nicht Recht habe, werden sie in zehn Minuten anrufen. Aber was, wenn ich Recht habe? Vergiss das Kind, vergiss Larzew, vergiss alles, du löst eine Rechenaufgabe, nimm dich zusammen, reg dich nicht auf, du rettest dein Leben, die Menschen sind Dreck, du brauchst dich ihretwegen nicht aufzuregen, denk nur an dich selbst. Es gibt dich und Tschistjakow. Und es gibt das Leben. Einfach nur das Leben. Noch vier Minuten. Du wirst alles tun, was sie von dir verlangen, was immer dich das kosten wird. Du bist eine nüchtern denkende Frau und weißt genau, dass du ihnen nicht gewachsen bist. Darum hat es keinen Sinn, mit ihnen zu kämpfen. Sie sind viele, und du bist allein. Niemand wird dich für dein Verhalten verurteilen, niemand wird das wagen. Fünf Minuten waren vorüber . . .
    Sie ließ die Straße hinter der Fensterscheibe nicht aus den Augen. Dreck, Matsch, die dunklen, nassen Kleidungsstücke der Passanten, die Schmutzfontänen der vorüberfahrenden Autos. War das wirklich erst vor zehn Tagen gewesen – die helle italienische Sonne, die weißen Paläste, die immergrünen Bäume, das blaue Wasser der Springbrunnen, ihre fröhliche Mutter und der verliebte Professor Kühn? War es wirklich erst zehn Tage her, dass sie sich zum ersten Mal nach vielen Jahren frei und glücklich gefühlt hatte? Sieben Minuten waren vorüber. Das Bürschlein tauchte wieder auf der Straße auf. Wie schnell er laufen konnte, der kleine Schweinehund . . .
    Als es an der Tür läutete, war eine Minute bis

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