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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Telefonhörer vorsichtig auf die Gabel, holte tief Luft und wischte seine schweißglänzende Glatze mit einem großen hellblauen Taschentuch ab.
    »Wie war ich?«, fragte er, während er in dem düsteren, unaufgeräumten Büro auf und ab zu gehen begann.
    »Ich habe noch nie so viele Lügen auf einmal von Ihnen gehört«, bemerkte Konstantin Michajlowitsch. »Ich habe sogar an den Fingern mitgezählt, um mich nicht zu verrechnen.«
    »Und worauf sind Sie gekommen?«
    »Erstens bin ich nicht auf Sie losgegangen. Zweitens haben Sie mir keine Abreibung erteilt. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, kennen wir beide uns bereits seit zehn Jahren und haben in dieser Zeit nie ernsthafte Konflikte gehabt, wir haben uns nie gegenseitig angebrüllt. Oder irre ich mich?«
    »Nein, Sie irren sich nicht.«
    »Gut, ich zähle weiter auf. Gontscharow ist nicht bei Ihnen gewesen, und Sie Ihrerseits waren nicht beim General. Das sind Nummer drei und vier. Und schließlich stammt die letzte Unterlage in der Akte Jeremina nicht vom sechsten Dezember. Das ist Nummer fünf. Ist das genug?«
    »Mehr als genug. Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass ich alles das im Namen der Rechtsprechung tun muss? Oder, anders gefragt, kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass man in einem Beruf, der der Wahrheit dienen soll, lügen muss, dass sich die Balken biegen? Ist das nicht paradox?«
    »Was soll man tun, Viktor Alexejewitsch, Krieg ist Krieg, wir spielen ja nicht Räuber und Gendarm mit ihnen.«
    »Nein, das ist kein Krieg, das ist es ja eben«, widersprach Knüppelchen. Er unterbrach seinen Rundgang und umklammerte mit seinen festen, kräftigen Händen die Lehne eines Stuhles, der ihm im Weg stand. Der Stuhl ächzte bedenklich unter seinem Gewicht. »Ein Krieg wird nach Gesetzen geführt, die für beide Seiten verbindlich sind. Und hinterher können sie wenigstens ihre Kriegsgefangenen wieder austauschen. Und wir? Auf uns wird nach Belieben geschossen, und wir können nichts anderes tun, als tonnenweise Berichte darüber zu verfassen. Die andere Seite verfügt über Geld, Leute, Waffen, über die neueste Technik, und wir besitzen nur unser Besteck für kriminaltechnische Untersuchungen, das noch aus der Nachkriegszeit stammt. Wir sind nichts weiter als Autodidakten und haben nicht einmal Geld für Benzin. Nein, Konstantin Michajlowitsch, wir beide befinden uns leider nicht im Kampf, wir verteidigen uns aus letzter Kraft und versuchen, das zu retten, was man früher Berufsehre und Stolz nannte.«
    Olschanskij sah Gordejew nachdenklich an, innerlich stimmte er ihm zu, aber er wollte nicht auf das gefährliche Thema eingehen. Es fehlte nicht mehr viel, und das Gespräch würde auf Larzew kommen. Kannte der Oberst die Wahrheit oder nicht? Es war besser, nichts zu riskieren.
    »Glauben Sie, dass Ihre Inszenierung funktionieren wird?«, fragte er ausweichend.
    »Ich will es hoffen.«
    Gordejew ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl nieder, ließ die Verschlüsse seines Diplomatenkoffers schnalzen, entnahm dem Koffer ein Döschen Validol und schob eine Tablette unter seine Zunge.
    »Ich bin in letzter Zeit nicht mehr auf dem Damm«, sagte er müde. »Jeden Tag macht mir mein Herz zu schaffen. Und was Anastasija betrifft, so kann man nur darauf hoffen, dass sie auch mitgezählt hat. Mehr können wir nicht tun, wir können ihr nicht helfen. Lob und Ehre für sie, wenn sie verstanden hat, wenn nicht, dann haben wir Pech gehabt.«
    »Angenommen, sie hat verstanden. Was erwarten Sie von ihr?«
    Knüppelchen sah den Untersuchungsführer erstaunt an, während er fortfuhr, sich mechanisch die linke Seite der Brust zu reiben.
    »Wissen Sie denn nicht, wer meine Anastasija ist, Konstantin Michajlowitsch? Im Unterschied zu allen anderen weiß man bei ihr nie, was sie tun wird. Es hat keinen Sinn, etwas anderes von ihr zu erwarten als ein Endergebnis. Sie liefert immer nur Ergebnisse, wenn das prinzipiell möglich ist, aber wie sie das macht, weiß Gott allein. Mein Korotkow sagt, dass sie ein völlig unverständliches Gehirn hat.«
    »Sie reden über Ihre Leute wie ein Sklavenhalter«, lachte Olschanskij und nahm seine Brille ab. »Meine Anastasija, mein Korotkow. Gehören die anderen Mitarbeiter auch alle Ihnen oder nur diese beiden?«
    »Lachen Sie nicht«, sagte Gordejew ernst. »Sie sind alle meine Kinder, die ich erziehen und beschützen muss, was immer auch geschieht. Kein Einziger von ihnen, hören Sie, kein Einziger musste sich je von einem Vorgesetzten

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