Der gestohlene Traum
hinausschicken. Ich habe alle meine Papiere in den Safe eingeschlossen und bin gegangen. Im Sekretariat wusste man von nichts, niemand hatte mich von dort angerufen. Da habe ich begriffen, dass etwas nicht stimmte, und lief schnell zurück in mein Büro. Aber es war bereits zu spät. Niemand hat den Schuss gehört, offenbar hat der Mörder einen Schalldämpfer benutzt.«
»Alles klar. Hat Morozow dir gesagt, was er von mir wollte?«
»Nein, er hat nichts gesagt, aber er war sehr nervös. Er wirkte völlig verändert auf mich.«
»Hat er etwas bei sich gehabt?«
»Eine Sporttasche.«
»Bring die Tasche in Sicherheit, bevor sie jemand wegnimmt. Sobald sich die Wellen hier gelegt haben, sehen wir nach. Vielleicht finden wir irgendwelche Unterlagen. Hast du Larzew gefunden?«
»Er ist schon auf dem Weg hierher.«
»Lauf zum Tor, fange ihn ab und bring ihn über den Notausgang direkt zu mir. Geh mit ihm nicht an deinem Büro vorbei und verliere kein Wort über Morozow.«
* * *
Nikolaj Fistin, alias Onkel Kolja, war sehr verwirrt. Arsenn hatte ihm befohlen, sofort nach Sascha Djakow zu suchen und ihn zur Kamenskaja zu bringen. Diese Forderung erschien Onkel Kolja völlig verfehlt und unsinnig. Zumal sie allem Anschein nach unerfüllbar war.
Nikolaj Fistin war wegen besonders schweren Rowdytums zum ersten Mal mit siebzehn Jahren im Straflager gelandet. Nach drei Jahren wurde er wieder entlassen, aber da er im Lager nicht gescheiter geworden war und das Zuschlagen nach wie vor für die einzige Möglichkeit hielt, seinen Unwillen auszudrücken, wurde er sofort wieder verhaftet, diesmal musste er eine achtjährige Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichen Folgen absitzen.
Angesichts seiner wilden Jugendjahre entzog man ihm das Wohnrecht in Moskau und verbannte ihn in die Provinz. Nikolaj lebte in einem Wohnheim, arbeitete in einer Ziegelfabrik, trank viel und fluchte, was das Zeug hielt. Sein weiteres Schicksal schien für immer besiegelt. Doch er hatte Glück. Der Zufall bot ihm eine neue Chance, und es gelang ihm, diese Chance voll und ganz zu nutzen.
Eines Tages lernte er in Zagorsk eine Frau kennen, die zu einer Stadtbesichtigung gekommen war. Tonja arbeitete bei einer Wohnungsbaugesellschaft, die über sehr begehrte Wohnobjekte des gehobenen Standards verfügte. In der Zeit der Stagnation war es Usus geworden, die im ersten Stock gelegenen Wohnungen dieser Häuser den Mitarbeitern der Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung zu stellen. So kam die unscheinbare, unglückliche alte Jungfer zu einer mehr als anständigen Behausung. Durch die Verheiratung mit einer Moskauerin gewann Nikolaj sein Wohnrecht in der Hauptstadt zurück, aber seine eigennützigen Motive verwandelten sich sehr bald in das, was Nikolaj für Liebe hielt. Er hatte sich dazu zwingen müssen, Tonja zu heiraten, aber schon nach einem Monat begriff er, dass sie der einzige Lichtstrahl in seinem Leben war. In seiner Kindheit hatte er nichts anderes gekannt als die Flüche und Schläge seiner betrunkenen Eltern. Mit siebzehn Jahren war er in die Strafkolonie gekommen. Seinen Brüdern war es nicht besser ergangen. Einer war ebenfalls im Knast gelandet, der andere hatte sich um den Verstand gesoffen, der dritte war inzwischen tot. Und Tonja war eine warmherzige, zärtliche Frau, die ihn liebte und voller Mitgefühl für ihn war. Sie verlangte nichts von ihm, sondern nahm ihn so, wie er war. Aus Nikolajs anfänglicher scheuer Begeisterung für Tonja, mit der er zum ersten Mal Nähe und Zärtlichkeit erlebte, wurde glühende Liebe. Er war bereit, jeden auf der Stelle umzubringen, der seine Frau auch nur schief ansehen würde.
Nachdem Fistin bei Tonja eingezogen war, wurde er Schlosser in derselben Wohnungsbaugesellschaft, in der auch seine Frau arbeitete. Doch die eheliche Idylle verwandelte ihn nicht in einen Menschen, der das Gesetz ernst nahm. Allmählich begann er, in kriminellen Geschäften aktiv zu werden, zumal er viele Freunde in diesen Kreisen hatte. Das Leben erschien ihm nun durchaus akzeptabel, langsam kam er zu etwas Geld und war überglücklich, wenn er seiner Tonja wieder einmal ein Geschenk mitbringen konnte, ein Armband, ein Kostüm oder teure Kosmetik, die sie mit schüchterner, schlecht verhohlener Freude entgegennahm. Woher Nikolaj das Geld dafür hatte, wusste sie natürlich nicht, er machte ihr weis, dass er nebenher etwas in einer Autowerkstatt dazuverdiente.
»Aber nicht doch, Kolja«, sagte Tonja, »ich
Weitere Kostenlose Bücher