Der gestohlene Traum
war wieder die ihr bekannte, samtige Männerstimme, die jetzt aber angespannt klang. Das war nicht weiter verwunderlich, da die störrische und unnachgiebige Kamenskaja plötzlich selbst um einen Anruf gebeten hatte.
»Ich werde es kurz machen«, sagte sie trocken. »Ich bin noch jung genug, um den Tod zu fürchten. Ihr Freund Larzew ist in sehr schlechter Verfassung und stellt eine ganz reale Gefahr für mein Leben dar. Deshalb ist es in meinem ureigenen Interesse, dass seiner Tochter nichts zustößt. Ich möchte, dass Sie Djakow zu mir schicken.«
»Wozu brauchen Sie Djakow?«
»Er ist in Kartaschows Wohnung in eine dumme Falle geraten. Der Untersuchungsführer wird in den verbleibenden Tagen vielleicht noch Schritte zur Aufklärung des Falles unternehmen, unter anderem wird er vielleicht versuchen, Djakow zu schnappen. Da ich genau weiß, welche Spuren er in Kartaschows Wohnung hinterlassen hat, werde ich ihm präzise Anweisungen geben, was er sagen soll, falls man ihn fasst. Sie haben mich in eine Lage gebracht, in der ich alles dafür tun muss, damit nichts schief läuft. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, ich habe Sie verstanden, Anastasija Pawlowna. Djakow wird in einer Stunde bei Ihnen sein. Ich freue mich, dass wir zu Verbündeten geworden sind.«
»Auf Wiederhören«, sagte Nastja zurückhaltend.
Die Ironie des Schicksals! Erst vor kurzem hatte Boris Kartaschow ihr dasselbe gesagt. Auch er hatte seine Freude darüber ausgedrückt, dass sie Verbündete geworden waren.
Wie lange würden sie diesen Djakow nun suchen? In einer Stunde würden sie ihn nicht finden, das stand fest. In einer Stunde würde der angenehme Bariton ihr voll Bedauern mitteilen, dass sie auf den Gesuchten noch eine Weile würde warten müssen. Dieses Gespräch würde noch kürzer sein als das vorherige, und es würde keine großen Anstrengungen von Nastja verlangen. Sie würde nur ein leichtes Missvergnügen zum Ausdruck bringen müssen, vielleicht ein wenig Erstaunen darüber, dass eine so gewichtige Organisation nicht in der Lage war, eine dringend gesuchte Person auf die Schnelle ausfindig zu machen. Nastja konnte sich entspannen.
Ljoscha klapperte in der Küche demonstrativ mit dem Geschirr. Er hatte wahrscheinlich Hunger, konnte sich aber trotz seines Gekränktseins offenbar nicht dazu entschließen, allein zu essen. Er würde wohl warten, bis Nastja sich dazu herabließ, sich ihm anzuschließen. Sie hätte ihn nicht so behandeln dürfen . . .
Nastja atmete ein paar Mal tief durch, entspannte ihre Rücken-und Nackenmuskulatur und öffnete die Tür zur Küche.
»Wenn du der Meinung bist, dass ich dich gekränkt habe und Strafe verdiene, werde ich nicht widersprechen. Aber lass uns die Erziehungsmaßnahmen bitte auf später verschieben. Im Moment brauche ich deinen Kopf.«
Ljoscha blickte von seinem Buch auf und sah sie unfreundlich an.
»Bin ich bei dir nach wie vor für Hilfsarbeiten eingeteilt?«
»Ljoscha, ich brauche dich. Lass uns jetzt nicht diskutieren. Dafür haben wir noch das ganze Leben Zeit.«
»Bist du dir sicher? Wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, bleibt uns vielleicht gar nicht mehr viel, weil jeden Augenblick dein Freund Larzew hier auftauchen und uns über den Haufen schießen kann. Aber selbst in dieser Situation hörst du nicht auf, mich wie ein Küchengerät zu behandeln. Worüber hast du mit diesem Bullterrier verhandelt? Und wer hat dich angerufen?«
»Ich werde dir alles erklären, aber hilf mir erst, eine Denkaufgabe zu lösen.«
»Schieß los«, sagte Tschistjakow mit einem tiefen Seufzer.
* * *
Das Erste, was Knüppelchen erblickte, nachdem er die Treppen hinaufgestiegen und in den langen Korridor abgebogen war, war das kreidebleiche Gesicht von Pawel Wassiljewitsch Sherechow. Erst dann bemerkte er, dass sein Stellvertreter inmitten eines Menschenauflauf stand, der in ein Gewitter von Blitzlichtern getaucht war. Ohne ein Wort zu sagen, bahnte Gordejew sich einen Weg durch die Menge und erblickte einen Mann, der mit einem Kopfschuss auf dem Fußboden im Büro seines Stellvertreters lag. Die Kugel hatte ihn genau in der Mitte der Stirn getroffen, Hauptmann Morozow war tot.
»Wie ist das passiert?«, presste Gordejew zwischen den Zähnen hervor.
»Er hat bei mir im Büro gesessen und auf dich gewartet. Man rief mich an und bat mich, im Sekretariat vorbeizukommen, um ein wichtiges Papier abzuholen. Ich konnte Morozow wegen dieser fünf Minuten doch nicht auf den Korridor
Weitere Kostenlose Bücher