Der gestohlene Traum
sie.
»Aber Mam, ich bin noch lange nicht so weit wie du. Ich habe heute einfach nur Glück gehabt. Ein zweites Mal bringe ich das nicht. Aber ich gebe zu, dass ich mich sehr angestrengt habe. Ich wollte immer so sein wie du.«
Vor einem Monat. . .
»Hast du dich mit Onkel Arsenn beraten?«
»Ja, er hat gesagt, ich soll mich um gutes Mittelmaß bemühen und nicht auffallen. Es wäre falsch, das Praktikum bei der Petrowka abzulehnen, das würde Verdacht erregen. Man müsse es so einrichten, dass ich am Ende des Praktikums eine gute Beurteilung bekomme, ohne dass sie mir eine Stelle anbieten.«
»Warum?«
»Weil Onkel Arsenn mich im nördlichen Bezirk braucht. Man wird mir eine Stelle bei der dortigen Kripo zuweisen, egal, wo ich das Praktikum mache. Onkel Arsenn hat seine eigenen Pläne mit mir.«
»Nun ja, er wird schon wissen, was er tut. . .«
Vor einer Woche . . .
»Vielleicht solltest du ein bisschen leiser treten, Söhnchen. Nicht jeder muss merken, wie gescheit du bist. Nach allem, was wir wissen, ist die Kamenskaja gar nicht so einfach gestrickt. Pass auf, dass sie dir nicht auf die Schliche kommt.«
»Du meinst, ich soll das Gas etwas zurücknehmen?«
»Genau.«
»Ich gehorche, mein General! Deine Intuition ist einmalig, Mam . . .«
* * *
Die beiden Schüsse fielen gleichzeitig. Larzew stürzte sofort zu Boden, Oleg sank langsam in sich zusammen.
Natalja Jewgenjewna hatte noch gar nicht begriffen, was passiert war, als es an der Tür läutete. Cäsar begann sofort wütend zu bellen. Nataljas Mann hatte einen Schlüssel, er konnte es nicht sein, der läutete. Und einem anderen gedachte Natalja nicht zu öffnen.
Es läutete erneut. Cäsars Bellen wurde noch lauter, dann ein Hämmern an der Tür, Stimmen.
»Aufmachen, Miliz!«
Das Hämmern wurde immer stärker. Die Dachno begriff, dass die Miliz drauf und dran war, die Tür aufzubrechen. Warum sind sie hier?, fragte sie sich. Etwa wegen Oleg? Hat er einen Fehler gemacht, sich verrechnet, etwas übersehen, haben sie Verdacht geschöpft und sind ihm gefolgt? Oleg, mein Söhnchen, warum hast du denn nicht besser aufgepasst?
Sie wollte schreien. Schon zu oft hatte sie den Tod gesehen, als Ärztin und als Jägerin. Oleg war tot, daran bestand kein Zweifel. Oleg, ihr Zögling, den sie zu lieben begonnen hatte wie ihr leibliches Kind, der ihr Augenblicke fast unerträglichen Mutterglücks geschenkt hatte, auf den sie so stolz gewesen war, durch den sie das Wunder der Freundschaft und Zusammengehörigkeit zwischen Mutter und Sohn erfahren hatte. In diesen acht Jahren mit ihm hatte sie mehr Freude erlebt als in ihrem gesamten vorherigen Leben. Niemand mehr würde sie jemals so unterstützen, so trösten, so aufrichten können wie er. Auch wenn das alles nicht die Wahrheit war, sondern nur ein gekonntes Spiel. Trotzdem hatte es Oleg doch gegeben, es hatte ihn wirklich gegeben. . . und es war wunderbar.
Doch außer Oleg gab es noch ihren Mann, es gab sie selbst und den Rest ihres Lebens, den sie nicht im Gefängnis verbringen wollte.
Man hörte das Splittern der Tür. Cäsars Bellen ging in ein heiseres Heulen über. Natalja Jewgenjewna wollte ebenfalls heulen, in Schluchzen ausbrechen. Sie fühlte plötzlich einen scharfen Schmerz in der Brust und verlor das Bewusstsein.
* * *
Am späten Abend des 30. Dezember stellte Nastja mit Genugtuung fest, dass die Taktik, die sie gemeinsam mit Knüppelchen eingeschlagen hatte, gewisse Erfolge zeitigte. Der Mann mit dem angenehmen Bariton rief regelmäßig an, entschuldigte sich höflich dafür, dass man Djakow immer noch nicht gefunden hatte, fragte nach, ob er auf irgendeine andere Weise zum positiven Ausgang der Angelegenheit beitragen könne, und stellte keinerlei Forderungen. Nastjas feines Ohr nahm sehr genau die wachsende Anspannung in seiner Stimme wahr, die er gekonnt zu verbergen versuchte. Bis jetzt lief alles nach Plan. Es gelang ihr, Zeit zu schinden und den Anrufer glauben zu machen, dass sie zu jeder Art von Zusammenarbeit mit ihm bereit war, um ihr Leben zu retten.
Die Angst, die in den letzten Tagen die Oberhand über sie gewonnen hatte, ließ allmählich nach, die übermenschliche Anspannung, die sie erzeugt hatte, war nicht länger durchzuhalten. Nastja war bereit, alles, wirklich alles zu tun, damit Nadja Larzewa nichts zustieß. Mochte der Fall unaufgeklärt bleiben, mochten die Täter ihrer Strafe entgehen, mochte man sie, Nastja, anschließend entlassen – auf alles das kam es nicht
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