Der gestohlene Traum
fünf blutrote Streifen hinterließ. Daraufhin erschien eine zweite Hand, wieder ohne die dazugehörende Person, und diese Hand zeichnete quer über die fünf roten Linien an der Wand einen Violinschlüssel. Vika hörte ein gemeines Kichern, das allmählich in ein bösartiges, höhnisches Gelächter überging. Von diesem Gelächter erwachte sie, schweißgebadet vor Angst.
Ende September erschien Vika bei Kartaschow und machte ihm noch auf der Türschwelle eine überraschende Mitteilung.
»Jemand hat meinen Traum heimlich mit angesehen und erzählt jetzt davon im Radio.«
Boris war verwirrt. Nun ist es so weit, dachte er, das Mädchen hat sich um den Verstand gesoffen. Wie sollte man in einem solchen Fall reagieren? Sollte er Vika zu erklären versuchen, dass es so etwas nicht gab, dass es sich hier um eine psychische Störung handelte, oder sollte er so tun, als würde er ihr glauben? Er wählte eine dritte Möglichkeit, die, wie ihm schien, äußerliche Zustimmung mit therapeutischer Wirkung verband. Nachdem eine Woche vergangen war und Vika immer noch von ihrer fixen Idee verfolgt wurde, machte er ihr einen Vorschlag.
»Lass uns versuchen, deinen Traum auf ein Blatt Papier zu malen. Wenn es eine Macht gibt, die dir deine Träume stiehlt, wird sie das erschrecken.«
Wider Erwarten war Vika einverstanden. Boris machte einige Skizzen, und unter Vikas Anleitung entstand schließlich ein ziemlich genaues Bild dessen, was sie im Traum sah. Doch es nutzte nichts. Vika verfiel immer mehr ihrer fixen Idee, aber sie wollte nicht einsehen, dass sie krank war, und lehnte es kategorisch ab, einen Psychiater aufzusuchen. Schließlich beschloss Kartaschow, selbst einen Arzt zu konsultieren. Der Psychiater bestätigte ihm, dass die geschilderten Symptome auf den Beginn einer akuten Psychose hindeuteten. Wenn ein Mensch das Gefühl hätte, andere würden in seine Gedanken eindringen und ihn per Radio beeinflussen, müsse man davon ausgehen, dass er an einem Verfolgungswahn litt. Mit Sicherheit könne man aber nichts sagen, eine Ferndiagnose sei nicht möglich. Wenn das Mädchen sich weigere, einen Psychiater aufzusuchen, gäbe es nur eine Möglichkeit: Kartaschow könne ihn, den Arzt, unter einem Vorwand zu sich nach Hause einladen, wenn Vika gerade bei ihm sei. Sie würden ein paar Stunden zusammensitzen und Tee trinken, und dabei könne der Arzt das Verhalten des Mädchens beobachten. Es wurde vereinbart, so ein Treffen sofort nach Kartaschows Rückkehr von der bevorstehenden Reise zu organisieren. Aber als Boris am 27. Oktober aus Orjol zurückkehrte, wo er für einen Verlag Skizzen für ein Buch angefertigt hatte, erfuhr er, dass Vika bereits seit drei Tagen verschwunden war.
»Wie es weiterging, wissen Sie selbst. Ich habe mich an die Miliz gewandt und Vikas sämtliche Freunde angerufen. Aber leider war alles umsonst.«
»Haben Sie nicht versucht, noch einen anderen Arzt zu konsultieren? Oder hat Ihnen diese eine Meinung genügt?«
»Ich habe selbst diesen einen nur mit Mühe gefunden. Ich kenne keine Ärzte, sie gehören nicht zu meinem Bekanntenkreis.«
»Und wie haben Sie diesen Psychiater ausfindig gemacht?«
»Über einen Bekannten und auch das nur ganz zufällig. Er hat einmal verlauten lassen, dass er viele Freunde in medizinischen Kreisen hat, und wenn ich einmal Probleme mit der Gesundheit haben sollte, würde er mir gern weiterhelfen. So habe ich mich an ihn gewandt, und er hat den Kontakt hergestellt.«
Nastja hörte, wie nebenan das Telefon läutete, aber Boris blieb sitzen, als würde er es nicht bemerken.
»Nehmen Sie nicht ab?«, fragte sie erstaunt.
»Ich habe einen Anrufbeantworter. Wenn nötig, werde ich später zurückrufen.«
Nastja war zu Kartaschow gegangen, um herauszufinden, ob die Erkrankung der Jeremina nicht vielleicht dessen eigene Erfindung war. Es kam ja durchaus vor, dass Menschen eine psychische Krankheit eingeredet wurde, weil jemand Nutzen daraus ziehen wollte. Vika war nie bei einem Arzt gewesen, alles, was über ihre Krankheit bekannt war, wusste man nur von Kartaschow. Zwar hatte auch Olga Kolobowa behauptet, dass Vika ihr von ihren gestohlenen Träumen erzählt hatte, aber sie konnte mit Boris unter einer Decke stecken. Vielleicht wollten die beiden Vika aus irgendeinem Grund loswerden und inszenierten deshalb dieses böse Spiel. Das Motiv war bisher nicht bekannt, aber man hatte sich mit dieser Version auch noch nicht beschäftigt. Vielleicht existierte wirklich so ein
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