Der gestohlene Traum
sie Ihre geschiedene Frau gesehen hat?«
»Die Sendung lief im vierten Programm und hieß ›Freie Fahrt‹.«
Nastja überlegte. Sie musste die Kassette sicherstellen, das war klar. Die Pause konnte nur aus zwei Gründen entstanden sein: Entweder hatte jemand nach dem Signalton einfach geschwiegen, oder die Nachricht wurde gelöscht. Wenn Letzteres der Fall war, geriet Boris Kartaschow in den Verdacht, dass er entweder eine Nachricht der Jeremina gelöscht hatte oder eine, die etwas mit ihrer Ermordung zu tun hatte. Knüppelchen war der Meinung, dass hinter Vikas Ermordung möglicherweise die Mafia stand, und da diese bekanntlich mit den besten Anwälten zusammenarbeitete, wäre es ein grober Fehler gewesen, die Kassette einfach so an sich zu nehmen. Wie hätte man hinterher beweisen können, dass die fragliche Nachricht nicht von der Miliz selbst gelöscht wurde, mit der Absicht, Kartaschow zu kompromittieren? Nastja musste sich genau an die Vorschriften halten, sie brauchte eine offizielle Erlaubnis zur Beschlagnahmung der Kassette. Doch wie sollte sie das anstellen? Wenn Boris die Wahrheit sagte, was Nastja allerdings stark bezweifelte, konnte sie morgen früh mit der Anweisung zur Beschlagnahmung und mit einem Zeugen wiederkommen. Aber was, wenn Kartaschow wirklich in den Mord verwickelt und die Pause auf dem Band ein wichtiges Indiz dafür war? Was würde dann bis morgen mit diesem Band geschehen? Nein, es war unmöglich, die Sache auf morgen zu verschieben, sie musste das Band heute an sich nehmen. Aber wie sollte sie das anstellen? Wenn die Nachricht wirklich gelöscht wurde, musste auf dem Band jener akustische Hintergrund fehlen, der zwangsläufig entstand, wenn ein Anrufer aus irgendeinem Grund nach dem Signalton einfach nur schwieg. Nur die Gutachter konnten feststellen, welcher Art die unerklärliche Pause auf dem Band war. Was also tun?
Nastja warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war halb zwei. In ihr blitzte die verrückte Hoffnung auf, Andrej Tschernyschew könnte mitten am Tag kurz nach Hause gefahren sein, um seinen Hund zu füttern.
Nastja hatte Glück. Andrejs siebenjähriges Söhnchen teilte ihr gewissenhaft mit, dass sein Vater versprochen hatte, gegen ein Uhr kurz nach Hause zu kommen, um Kyrill zu füttern und auszuführen. Da es längst nach eins war, müsse er jeden Augenblick auftauchen, andernfalls hätte er bestimmt angerufen und gesagt, was der Hund heute zu fressen bekommen sollte. Nastja hinterließ dem Knirps Kartaschows Telefonnummer und bat ihn, dem Vater auszurichten, er möge sofort zurückrufen, sobald er nach Hause käme.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Bekannten, über den Sie den Psychiater gefunden haben«, sagte Nastja.
»Ich kenne ihn nur flüchtig. Ich habe ihn bei Freunden getroffen. Er hat mir erzählt, dass er in der Geschäftsführung eines Verlages arbeitet, obwohl er einst Medizin studiert hat. Er sagte, er würde viele Ärzte kennen, und wenn ich einmal Probleme mit der Gesundheit haben sollte, würde er mir gern helfen. Er gab mir seine Visitenkarte. Das war alles.«
»Ich brauche seine Adresse. Haben Sie die Visitenkarte noch?«
Während Boris sein Notizbuch nach eingelegten Zetteln durchsuchte, warf Nastja erneut einen Blick auf die Zeichnung mit den blutroten Linien.
»Sagen Sie, Boris, warum ist der Violinschlüssel auf der Zeichnung hellgrün?«
»So hat Vika es geträumt. Ich habe mich selbst gewundert, aber sie sagte, der Violinschlüssel sei in ihrem Traum immer hellgrün und nie anders. Hier!« Kartaschow reichte Nastja die Visitenkarte von Valentin Petrowitsch Kosarj mit dessen privater und dienstlicher Telefonnummer.
DRITTES KAPITEL
Nastja sah sich aufmerksam im Auditorium um. Die fünfzehn Studenten der Moskauer Polizeihochschule, alle in Uniform, glatt rasiert und mit kurz geschnittenem Haar, sahen für sie vollkommen gleich aus. Gestern hatte sie praktische Übungsstunden in der Parallelgruppe abgehalten und niemanden entdeckt, dessen Intellekt dem Niveau der »sechzigsten Aufgabe« entsprach.
Die ersten zehn Minuten widmete sie der Rekapitulation des Unterrichtsstoffes, dann zeichnete sie das Schema eines Verkehrsunfalls an die Tafel.
»Schreiben Sie auf: Die Aussagen des Fahrers. . . die Aussagen der Zeugen A, B, C, D . . . Versuchen Sie zu erklären, warum die Zeugenaussagen voneinander abweichen, und stellen Sie fest, welche Aussagen der Wahrheit am nächsten kommen. Sie haben Zeit bis zur Pause. Nach der Pause werden wir die
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