Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
Antworten auswerten.«
    Als es zur Pause läutete, ging Nastja hinaus ins Treppenhaus, wo man rauchen durfte. Einige Studenten aus der Gruppe traten zu ihr heran.
    »Arbeiten Sie in der Petrowka?«, fragte ein junger Mann, der um einen Kopf kleiner war als sie.
    »Ja.«
    »Und wo haben Sie studiert?«
    »An der Universität.«
    »Und welchen Rang haben Sie bei der Miliz?«, fragte der Winzling weiter.
    »Ich bin Majorin.«
    Für einen Moment trat Schweigen ein, dann mischte sich ein anderer Student in das Gespräch ein. Er war groß gewachsen, hellhaarig und hatte eine kaum merkliche Schramme über der Augenbraue.
    »Kleiden Sie sich absichtlich so, damit niemand etwas merkt?«
    Die Frage brachte Nastja in Verlegenheit. Sie wusste, dass sie normalerweise sehr viel jünger wirkte als dreiunddreißig. Heute trug sie statt der gewohnten Jeans zwar einen strengen engen Rock, einen weißen Pulli und eine Lederjacke, aber sie sah trotzdem aus wie ein Mädchen: ein glattes, ungeschminktes Gesicht, langes helles Haar, das im Nacken zusammengebunden war. Sie tat niemals etwas dafür, um jünger auszusehen, als sie war, sie kleidete sich einfach nur so bequem wie möglich. Sie war viel zu faul, um sich zu schminken, und in Anbetracht dessen, dass sie normalerweise nur in Jeans und Turnschuhen herumlief, wäre es lächerlich gewesen, das lange Haar zu einer komplizierten Frisur aufzustecken. Eine andere, »solide« Garderobe lehnte Nastja kategorisch ab. Erstens schwollen gegen Abend stets ihre Beine an, da sie sich in der Regel wenig bewegte und viel Kaffee trank. Zweitens hatte sie Kreislaufprobleme, weshalb sie ständig fror. Die Kombination von Jeans, Wollhemd und Pullover war warm und bequem, und das schätzte Nastja über alles. Aber es wäre lächerlich gewesen, das alles dem Studenten zu erzählen.
    »Was sollte man denn nicht merken?«, fragte sie ausweichend.
    »Dass . . . dass . . .« Der junge Mann verstummte für einen Moment und begann zu lachen. »Tut mir Leid, ich bin ein Idiot«, sagte er.
    Gut gemacht, dachte Nastja. Der hat Köpfchen. Es wäre tatsächlich reichlich dumm, wenn ich mich um ein Äußeres bemühen würde, das jedem sofort meinen Beruf verrät. Eine Kripobeamtin sollte sich viel eher darum bemühen, einem Chamäleon zu gleichen. Wenn ich in der Gruppe keinen besseren Kandidaten entdecke, werde ich die Praktikantenstelle diesem jungen Mann anbieten. Er ist wenigstens in der Lage, sich rechtzeitig zu besinnen und einen Fehler einzugestehen, und das ist schon eine ganze Menge.
    Als Nastja nach der Pause in den Vorlesungsraum zurückkehrte, spürte sie, wie ihr Herz klopfte. Sie war nervös, wie jedes Jahr, wenn sie einen Praktikanten aussuchte. Immer hoffte sie, die Nadel im Heuhaufen zu finden, und immer fürchtete sie, diese zu übersehen. Sie warf einen Blick auf die Namensliste und begann mit ihren Fragen. Die Antworten der Studenten waren in der Regel nicht falsch, aber sie gingen nicht über das Übliche hinaus, meistens blieben sie oberflächlich und im Rahmen dessen, was Nastja zu Beginn des Unterrichts selbst vorgegeben hatte. Sie hatten sich nicht auf den Unterricht vorbereitet und nur mit halbem Ohr hingehört. Man könnte meinen, sie müssten hier eine Strafe absitzen, dachte Nastja voller Bedauern, während sie sich die langweiligen, teilnahmslosen Antworten anhörte. Dabei hat sie niemand zu diesem Studium gezwungen, sie haben sich selbst dafür entschieden.
    Sie haben die Aufnahmeprüfung gemacht, zahllose Trainingsstunden abgeleistet, Examina abgelegt. Und jetzt scheint sie das alles nicht mehr zu interessieren. So sieht er also aus, der Nachwuchs der Moskauer Miliz, den man in einem halben Jahr auf die Menschheit loslassen wird . . .
    »Mestscherinow, wie ist Ihre Antwort?«
    Bis zum Ende des Unterrichts blieben acht Minuten. Nastja war zu dem Schluss gekommen, dass sie einen Besseren als den selbstkritischen blonden Studenten mit der Schramme über der Augenbraue sowieso nicht finden würde. Sollte er jetzt wenigstens einen halbwegs sinnvollen Satz von sich geben, würde sie bei ihrer Auswahl bleiben.
    »Die Psychologie tut hier wahrscheinlich nichts zur Sache«, sagte Mestscherinow. »Vermutlich weichen die Aussagen voneinander ab, weil die Zeugen bestochen sind und das sagen, was man ihnen eingebläut hat.«
    Nastja schoss das Blut ins Gesicht. Hatte sie tatsächlich die Nadel im Heuhaufen gefunden, den einen, der über den Rahmen des Vorgegebenen hinausdachte und die Lösung auf

Weitere Kostenlose Bücher