Der gestohlene Traum
einer ganz anderen Ebene suchte? Ein echter Glücksfall!
»Und was steckt nach Ihrer Meinung hinter den falschen Aussagen?«, fragte Nastja und versuchte dabei, die freudige Erregung in ihrer Stimme zu verbergen.
»Vielleicht will man die Miliz verwirren und die Ermittlungen in die Länge ziehen. Der Fahrer des Wagens ist vielleicht jemandem im Weg, und man will ihn mit allen Mitteln an seiner Bewegungsfreiheit hindern. Das Opfer ist bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, insofern darf der Beschuldigte seinen Aufenthaltsort sicher nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen. In Anbetracht so widersprüchlicher Zeugenaussagen werden die Ermittlungen sich sehr lange hinziehen, und das stellt sicher, dass der Beschuldigte in dieser Zeit die Stadt nicht verlassen wird, erst recht nicht das Land.«
Ausgezeichnet!, dachte Nastja. Du hast nicht nur die sechzigste Aufgabe gelöst, du bist ein Mensch mit Phantasie. Du denkst weit genug, um einen simplen Verkehrsunfall mit der Möglichkeit eines Verbrechens zu verknüpfen. Wirklich gut gemacht.
»Danke, Mestscherinow, Sie können sich wieder setzen. Der Unterricht ist zu Ende. Uns bleiben noch zwei Minuten, und ich möchte Ihnen zum Abschied noch ein paar Worte sagen. Ich habe den Eindruck, dass der Wissensstand in Ihrer Gruppe ziemlich niedrig ist. Bis zum Abschluss des Studiums bleiben Ihnen sechs Monate. Einen davon werden Sie im Praktikum verbringen, einen zweiten werden Sie brauchen, um Ihre Diplomarbeit zu schreiben. In der kurzen Zeit, die noch für das Studium bleibt, wird man Ihr Wissensdefizit kaum noch ausgleichen können. Ich bin mir sicher, dass Sie sich entsprechend auf das Staatsexamen vorbereiten werden, Sie werden alles gut auswendig lernen und bestehen. Aber die geistige Trägheit ist ein schweres Gebrechen. Und die meisten von Ihnen leiden an diesem Gebrechen. Vielleicht wollen nicht alle von Ihnen gute Ermittler oder Untersuchungsführer werden, vielleicht gibt es solche, denen es nur darum geht, das Diplom zu bekommen und Leutnant zu werden. Für die gelten meine Worte nicht. Aber diejenigen, die bei der Miliz arbeiten wollen, müssen wissen, dass sie scheitern werden, dass man Verbrechen nicht aufdecken kann, wenn man zu faul zum Denken ist. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Auf dem Korridor holte Nastja Mestscherinow ein, der auf dem Weg in die Mensa war, und berührte ihn leicht am Ellenbogen.
»Warten Sie einen Moment, Mestscherinow. Wissen Sie schon, wo Sie Ihr Praktikum machen werden?«
»Ja. Im nördlichen Bezirk, in Timirjasewsk. Warum fragen Sie?«
»Würden Sie Ihr Praktikum vielleicht auch bei der Moskauer Kripo machen, in der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen?«
Mestscherinow hielt inne, runzelte die Stirn und sah Nastja mit leicht zusammengekniffenen Augen an.
»Wenn das möglich wäre . . . Aber man hat uns die Praktikumsstellen bereits zugeteilt.«
»Dieses Problem kann ich lösen. Ich brauche nur Ihr Einverständnis.«
»Ich bin einverstanden. Aber wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«
Der junge Mann brachte Nastja zum zweiten Mal in Verlegenheit. Mit dir ist es gar nicht so einfach, mein Freund, dachte sie. Jeder andere an deiner Stelle wäre außer sich vor Freude und würde keine Sekunde zögern. Aber du überlegst, spekulierst und stellst Fragen. Wahrscheinlich hast du wirklich das Zeug zu einem guten Kripobeamten. Ich habe Glück mit dir.
»Bei uns herrscht, wie überall, Personalmangel«, erwiderte sie. »Deshalb sind wir froh über jede Unterstützung. Und je gescheiter ein Praktikant ist, desto besser, selbst dann, wenn er nur einen Monat bleibt.«
»Sie halten mich also für gescheit?«, lachte Mestscherinow. »Das freut mich. Denn schließlich haben Sie uns alle in einen Topf geworfen und zu Dummköpfen erklärt.«
Anastasija Kamenskaja, die Majorin der Miliz, fühlte sich plötzlich beschämt.
* * *
Nastja vernahm Andrej Tschernyschews Stimme in der Leitung.
»Habe ich dich geweckt?«
Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Es war fünf vor sieben. In fünf Minuten würde der Wecker klingeln.
»Ja, natürlich, du Sadist«, murmelte sie, »du hast mir fünf Minuten meines kostbaren Schlafs geraubt.«
»Ich verstehe nicht, wie du lebst, Nastja. Ich bin schon vor einer Stunde aufgestanden, habe einen Spaziergang mit Kyrill gemacht und meine Morgengymnastik absolviert. Jetzt fühle ich mich frisch und munter, und du liegst immer noch im Bett. Hast du wirklich noch
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