Der gestohlene Traum
Büro.
»Der freie Tisch gehört Ihnen, Oleg, das wird im Laufe des nächsten Monats Ihr Arbeitsplatz sein. Sie können mich einfach Nastja nennen.«
»Auf welche Art werden Sie mich denn unterweisen? Muss ich mir das so vorstellen wie den Unterricht bei uns an der Schule?«
»Ich weiß nicht, wie bei Ihnen an der Schule unterrichtet wird. Möglicherweise wird meine Methode Ihnen nicht gefallen. Dann müssen Sie sich einen anderen Mentor suchen. Für den Anfang würde ich gern herausfinden, ob Sie nach dem Prinzip des Ausschlussverfahrens denken können.«
»Wie das?«, fragte der Praktikant stirnrunzelnd.
»Ich denke mir ein Wort aus, zum Beispiel den Namen eines berühmten Schauspielers oder Regisseurs. Und Sie müssen erraten, wer es ist. Sie können mir jede beliebige Frage stellen, mit einer Einschränkung: Es müssen immer Fragen sein, auf die es zwei Antworten gibt, und Sie müssen so fragen, dass eine von den beiden Möglichkeiten zutrifft. Sie können zum Beispiel mit der Frage beginnen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Eine dritte Möglichkeit gibt es hier nicht. Haben Sie die Methode verstanden?«
»Ich glaube, schon«, sagte Oleg unsicher.
»Dann fangen Sie an.«
»Ist es ein Mann oder eine Frau?«
»Ein Mann.«
»Beginnt sein Nachname mit einem Konsonanten oder mit einem Vokal?«
»Sehr gut«, sagte Nastja, »mit einem Konsonanten.«
Aber Nastja hatte den Praktikanten zu früh gelobt. Er verfiel in tiefsinnige Grübelei und kam auf keine weitere Frage. Nastja drängte ihn nicht, sie sortierte schweigend die Papiere auf ihrem Schreibtisch.
»Ich weiß nicht weiter«, sagte Oleg endlich.
»Denken Sie nach«, erwiderte Nastja, ohne den Kopf von den Papieren zu heben.
»Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll. Ich dachte, Sie erzählen mir etwas über operative Vorgehensweisen oder erteilen mir irgendwelche Aufträge . . .«
»Die werde ich Ihnen schon noch erteilen. Vielleicht. Aber zuerst muss ich mich davon überzeugen, dass Sie denken können. Es muss ja nicht schnell gehen, ich bin auch eine langsame Denkerin. Die erste Lektion für Sie ist die, dass Sie in der Ermittlungsarbeit nicht tun können, was Sie wollen. Sie können sich die zu lösenden Aufgaben nicht nach Lust und Laune aussuchen, sondern müssen bereit und in der Lage sein, alles zu tun, was der Aufklärung eines Falles dient. Kein anderer wird das für Sie machen. Wenn Sie glauben sollten, dass Ermittlungsarbeit nur darin besteht, Täter in den Hinterhalt zu locken und zu verhaften, muss ich Sie enttäuschen. Das alles findet erst am Ende der Ermittlungsarbeit statt. Wenn Sie mit der Leiche eines Menschen konfrontiert sind, wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als erst einmal angestrengt darüber nachzudenken, von wem und warum dieser Mensch ermordet wurde, wie man das klären und überprüfen kann. Also seien Sie bitte so nett und stellen Sie Fragen, bis Sie die Aufgabe gelöst haben, trainieren Sie Ihr Gehirn und üben Sie gleichzeitig Geduld und Ausdauer.«
Der Praktikant runzelte die Stirn und drehte den Kopf zum Fenster. Mischa Dozenko betrat mit einer brennenden Zigarette in der Hand das Büro.
»Anastasija Pawlowna, darf ich ein bisschen hier bei Ihnen sitzen? Lesnikow hat gerade eine Besprechung, er muss mit seinem Besucher allein sein . . .«
»Kommen Sie herein, Mischa.«
Mischa war der einzige Kollege in der Abteilung, mit dem Nastja per Sie war. Das hatte nichts mit besonderem Respekt für den Oberleutnant zu tun. Es war Mischa, der Nastja in den Himmel hob, sie für außerordentlich intelligent hielt und nie anders ansprach als mit Namen und Vatersnamen. Kolja Selujanow machte deshalb sogar Witze und behauptete, der sympathische Oberleutnant habe sich insgeheim in die herbe, unterkühlte Kamenskaja verliebt. Das stimmte natürlich nicht, aber trotzdem blieb Nastja als Antwort auf Mischas unbeirrbares Sie nichts anderes übrig, als ihn ebenfalls zu siezen.
Eingedenk Gordejews strengem Verbot, mit einem von den Kollegen über den Mordfall Jeremina zu sprechen, räumte Nastja rasch die Papiere vom Schreibtisch. Sie plauderte mit Mischa friedlich über dies und das, beschwerte sich darüber, dass ihre alten Stiefel undicht waren und dass es wenig Sinn hätte, neue zu kaufen, da diese bei so viel Dreck und Wasser auf den Straßen sofort unansehnlich würden, kurz, sie redete, um Dozenko abzulenken und ihm nicht die Gelegenheit zu geben, auf dienstliche Angelegenheiten zu
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