Der gestohlene Traum
gesehen.«
»Haben Sie Vika vielleicht einmal in Ihrem Büro besucht?«
»Wozu? Was hatte ich dort verloren? Ich weiß nicht einmal, wo sie gearbeitet hat.«
Und so ging es weiter: Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht, ich habe nichts gesehen . . .
»Wann haben Sie erfahren, dass Vika verschwunden ist?«
»Olga hat es mir gesagt. Ich glaube, es war irgendwann Ende Oktober.«
»Was genau hat sie Ihnen gesagt?«
»Dass Boris nach Vika sucht, dass sie nicht zu Hause ist und auch nicht im Büro erscheint.«
»Ist Ihre Frau zu dieser Zeit vielleicht zufällig weggefahren? In eine andere Stadt oder für ein paar Tage zu einer Freundin in Moskau?«
»Ich glaube, nicht.«
»Sie glauben, nicht? Wissen Sie gewöhnlich, wo Ihre Frau sich aufhält?«
»Gewöhnlich weiß ich es nicht. Ich mache Schichtarbeit und bin nur jeden zweiten Tag zu Hause.«
»Und was ist, wenn Sie zu Hause sind?«
»Dann sitze ich auch nicht in der Wohnung herum. Und ich kontrolliere Olga nicht. Hauptsache, die Wohnung ist sauber und das Essen steht auf dem Tisch. Alles andere geht mich nichts an.«
»Aber sie ist doch Ihre Frau. Ist es Ihnen wirklich gleichgültig, wo sie ist und was sie macht?«
»Wie kommen Sie denn darauf, dass es mir gleichgültig ist?«
»Haben Sie das eben nicht selbst gesagt?«
»Ich glaube nicht, dass ich das so gesagt habe.«
»Sind Sie selbst Ende Oktober irgendwohin verreist?«
»Nein.«
»Sie haben die ganze Zeit Schichtarbeit gemacht?«
»Ja, die ganze Zeit.«
* * *
»Wir müssen zum Sawelowskij-Bahnhof fahren und dort nach diesem Kolobow fragen«, sagte Nastja nachdenklich, als sie mit Oleg wieder allein war. »Er ist irgendwie nervös geworden, als ich ihn gefragt habe, ob er Vika irgendwann dort gesehen hat. Sie fahren zum Bahnhof, ich zu Olga Kolobowa. Machen Sie schnell.«
* * *
»Wie oft denn noch?«, fragte die Kolobowa mit klagender Stimme, als sie Nastja erblickte. Sie war eine hübsche, füllige Blondine mit riesigen grauen Augen, einem großen Busen und schönen Beinen. Um den Eindruck einer möglichst schmalen Taille zu erwecken, trug sie zu enge Jeans und einen zu weiten Pullover. Sogar im Gespräch mit einer Kripobeamtin nahm sie den Kaugummi nicht aus dem Mund, sodass ihre ohnehin langsame Art, zu sprechen und die Vokale in die Länge zu ziehen, kindlich und gleichzeitig affektiert wirkte.
»Sie vernehmen mich schon zum x-ten Mal.«
»Ich vernehme Sie nicht, ich will mich nur etwas mit Ihnen unterhalten. Sagen Sie, Olga, warum haben Sie aufgehört zu arbeiten und sitzen jetzt zu Hause?«
»Wassja hat das so gewollt. Er braucht keine Ehefrau, sondern eine Haushälterin. Und ich sitze lieber zu Hause, als Wände zu verputzen.«
»Ist Ihnen nicht langweilig?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich hatte früher nie ein eigenes Zuhause, erst das Waisenhaus, dann das Wohnheim. Jetzt räume ich den ganzen Tag auf und putze, ich wische die Böden, staube ab und wienere das Bad. Und ich koche auch sehr gern.«
»Wozu geben Sie sich so viel Mühe, wenn Ihr Mann jeden zweiten Tag für vierundzwanzig Stunden weg ist und auch seine Freizeit kaum zu Hause verbringt?«
»Ich mache das für mich selbst.«
»Und für wen kochen Sie? Auch für sich selbst?«
»Ja. Ich habe genug Wassersuppe im Waisenhaus gelöffelt. Außerdem bringt Wassja gern Gäste mit nach Hause, fast immer überraschend, und wenn ich nichts dahabe, um die Gäste zu bewirten, gibt es Ärger. Deshalb bin ich immer in Kampfbereitschaft.«
»Kommt es auch vor, dass er Gäste mitbringt, wenn Sie nicht zu Hause sind?«
»Das kommt sogar oft vor. Ich bin hier ja nicht angenietet. Und er sagt mir nie, wann er jemanden mitbringt und wen.«
»Und dann gibt es auch Ärger?«
»Nein.« Der Kaugummi erschien für einen Moment zwischen Olgas kleinen, ungleichmäßigen Vorderzähnen und wechselte von einer Seite auf die andere. »Ihm kommt es nur darauf an, dass die Wohnung sauber ist und das vorgekochte Essen im Kühlschrank steht. Aufwärmen kann er es selbst. Und wenn Besuch da ist, braucht er mich erst recht nicht. Ich bin so etwas wie ein Möbelstück für ihn.«
»Kränkt Sie das nicht?«
»Warum sollte mich das kränken? Ich habe ihn ja nicht aus Liebe geheiratet. Wassja braucht eine Haushälterin, und ich brauche eine eigene Wohnung mit Küche und Bad. Im Wohnheim habe ich nicht einmal zu träumen gewagt, dass ich jemals eine eigene Bude haben würde.«
»Ist Ihr Mann Ende Oktober vielleicht zufällig für längere Zeit
Weitere Kostenlose Bücher