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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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weggefahren?«
    »Nein, mit Sicherheit nicht. Er hat immer gearbeitet.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich fahre jeden Tag zweimal zum Bahnhof und kontrolliere ihn.«
    »Wie bitte?«
    Die Ehrlichkeit dieser üppigen, lasziven Blondine war einfach umwerfend. Entweder war das offener Zynismus, der ganz entschieden nicht im Gewand von Wohlanständigkeit daherkommen wollte, oder diese Frau war so verzweifelt, dass es ihr völlig gleichgültig war, was andere über sie dächten.
    »Aber bitte sagen Sie ihm nichts davon. Sonst setzt es Schläge. Wissen Sie, er hat mich in dieser Wohnung nicht angemeldet, und wenn er auf die Idee kommen sollte, sich scheiden zu lassen, lande ich wieder im Wohnheim. Er hat sich letztes Jahr verliebt, und ich habe Angst bekommen, dass er mich verlässt und dieses Mädchen heiratet. Er hat mir damals immer erzählt, dass er wegfahren muss, um Ware für den Kiosk zu besorgen, aber in Wirklichkeit war er bei dieser Frau oder ist mit ihr zusammen weggefahren. Seitdem fahre ich regelmäßig zum Bahnhof und sehe nach, ob er am Kiosk ist. Er betrügt mich natürlich nach Strich und Faden, aber das macht nichts, Hauptsache, er lässt mich hier wohnen und schmeißt mich nicht raus. So lebe ich jetzt: Er fährt um acht Uhr morgens zur Arbeit, und zwei Stunden später fahre ich ihm hinterher. Ich schaue nach, ob er im Kiosk ist, dann mache ich mich wieder auf den Heimweg. Irgendwann am späten Abend fahre ich noch einmal hin. Deshalb weiß ich genau, dass er in den letzten zwei Monaten kein einziges Mal gefehlt hat. Sogar damals, als man ihn verprügelt hat, ist er am nächsten Tag wieder zur Arbeit gefahren, grün und blau, wie er war. Man kann ihn verstehen, weil er ja nicht der Besitzer des Kiosks ist, sondern auf Provision arbeitet. Wenn er nichts verkauft, verdient er nichts.«
    »Und was ist mit dieser anderen Frau? Sie haben gesagt, dass er damals tagelang nicht zur Arbeit gegangen ist.«
    »Na ja, sie hat viel Geld, wahrscheinlich hat sie ihm einiges zugesteckt. Aber im Grunde ist Wassja geizig, der zählt jede Kopeke. Darum bin ich damals auch hellhörig geworden, als ich erfahren habe, dass er seiner Arbeit fernbleibt. Mir war gleich klar, dass es sich in diesem Fall nicht um eines seiner Flittchen handelte, die er wechselt wie seine Hemden, sondern um etwas anderes. Keiner von denen hat er je auch nur eine Schachtel Zigaretten geschenkt.«
    »Noch eine Frage. Wie kommt es, dass Sie nach dem Verlassen des Baukombinats weiterhin im Wohnheim gemeldet bleiben? Aufgrund Ihrer Kündigung haben Sie das Wohnrecht in diesem Heim doch verloren.«
    »Nein, ich nicht, ich gehöre zum Waisenkontingent. Ich behalte mein Wohnrecht dort auch dann, wenn ich nicht mehr im Kombinat arbeite.«
    »Gut. Noch einmal zu Ihrem Mann. Hat er Ihnen erzählt, warum man ihn verprügelt hat?«
    »Der erzählt nie etwas. Und wenn er etwas erzählt, dann lügt er. Darum frage ich ihn gar nichts mehr und stecke meine Nase nicht in seine Angelegenheiten.«
    »Sagen Sie, hat er nie etwas davon gesagt, dass er Vika auf dem Sawelewskij-Bahnhof gesehen hat?«
    »Nein, davon hat er nie etwas gesagt.«
    »Hat er Sie jemals danach gefragt, wo Vika arbeitet?«
    »Ich habe ihm einmal erzählt, dass sie Sekretärin in einer Firma ist. Und er wollte nichts Näheres wissen. Er hat sie nicht besonders gemocht.«
    »Warum?«
    »Er war der Meinung, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich ausübt.«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Weil sie getrunken hat und überhaupt. . . Ich glaube, es hat ihn schrecklich geärgert, dass Vika mehr verdient hat als er. Und mir gegenüber spielt er sich als Despot auf, weil ich keine Kopeke besitze und völlig von ihm abhängig bin. Er hat befürchtet, ich könnte in Vikas Fußstapfen treten und genauso viel Geld verdienen wie sie. Dann hätte ich mir eine eigene Wohnung kaufen können oder zumindest mieten. Wo findet er denn noch so eine Dumme wie mich? Keine einzige normale Frau würde so ein Leben ertragen, das können Sie mir glauben.«
    »Haben Sie jemals daran gedacht, auf dieselbe Weise Geld zu verdienen wie Vika, oder hatte Ihr Mann keinen Grund zu solchen Befürchtungen?«
    »Natürlich hatte er keinen Grund. Er ist ein Dummkopf und misst alle mit seinem eigenen Maß. Aber ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen. Das, was Vika war, könnte ich nie werden, dazu bin ich nicht schön genug. Und für gewöhnliche Prostitution bin ich inzwischen etwas zu alt. Außerdem ist das sowieso nichts für mich.

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