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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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schlecht sein?«
    »Und meine Mutter? Irgendwie muss ich dann mein Verhältnis zwischen ihr und dieser Dame ausbalancieren.«
    »Jetzt machst du aber eine Mördergrube aus deinem Herzen, Nastja. Und wenn sie dir nicht gefällt? Wirst du dann dein Verhältnis zu deinem Stiefvater überdenken müssen?«
    »So ist es. Und überhaupt ist die Situation irgendwie . . . zweideutig. Hätte ich vielleicht lieber die Finger davon lassen sollen?«
    »Du bist ein kluges Mädchen und tust nie etwas ohne Grund. Hör auf, dich aufzuregen.«
    »Und du hör auf, mich zu beschwichtigen. In mir drin zittert alles. Lass uns einen Moment stehen bleiben, damit ich eine Zigarette rauchen kann.«
    »Sag mal, wirst du eigentlich nie erwachsen? Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen. Als gäbe es keine Grautöne zwischen Gut und Schlecht, Gefallen und Nichtgefallen.«
    Sie blieben an der Toreinfahrt zu Nastjas Elternhaus stehen. Nastja setzte sich auf eine Bank und holte ihre Zigaretten aus der Handtasche. Sie machte einen tiefen Zug, nahm Ljoschas Hand und drückte sie an ihre Wange.
    »Ich bin dumm, Ljoscha, nicht wahr? Bring mich zur Vernunft, sag mir etwas Kluges, damit ich mich beruhige. Ich schäme mich so. Es ist, als würde ich meine Mutter verraten.«
    Ljoscha setzte sich neben sie und legte zärtlich den Arm um ihre Schultern.
    »Du bist wirklich noch ein Kind, Nastja. Mit dreiunddreißig Jahren hast du immer noch keine Vorstellung von Ehe und Familie.«
    »Das sagt ausgerechnet ein so angeschimmelter Junggeselle wie du. Du bist mir der richtige Fachmann für Ehe- und Familienangelegenheiten.«
    »Bei mir ist das etwas anderes. Ich lebe noch bei meinen Eltern und sehe jeden Tag, wie sie miteinander umgehen. Aber du lebst seit langem allein und hast vergessen, was es bedeutet, im Laufe vieler Jahre Tag für Tag mit einem anderen Menschen Tisch und Bett zu teilen. Hör auf, dich schon im Voraus aufzuregen. Rauch lieber schnell zu Ende, damit wir gehen können.«
    »Ljoscha, weißt du, woran ich gerade denken muss?«
    »Wenn du damals die Abtreibung nicht gemacht hättest, wäre unser Kind bereits dreizehn Jahre alt.«
    »Wie hast du es erraten?«
    »Ich habe genau dasselbe gedacht. Außerdem kenne ich dich schon seit zwanzig Jahren. Ich habe es gelernt, deine Gedanken zu lesen.«
    »Wirklich? Dann lies weiter.«
    »Du hast daran gedacht, wie anders heute alles wäre, wenn du damals das Kind behalten und mich geheiratet hättest. Dann würdest du dich jetzt nicht mit der Frage herumschlagen müssen, ob es ethisch vertretbar ist, dass du die Geliebte deines Stiefvaters kennen lernst und dich mit ihr an einen Tisch setzt, während er immer noch der Ehemann deiner Mutter ist. Du würdest einfach keine Zeit haben, dir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Und vielleicht hättest du auch ein anderes Verhältnis zu ihnen. Stimmt’s?«
    »Soll ich dir die Wahrheit sagen, Ljoscha?«
    »Sag die ganze Wahrheit, und dann lass uns endlich gehen. Ich bin schon ganz steif vor Kälte.«
    Er erhob sich von der Bank und zog Nastja mit sich.
    »Ich warte auf die versprochene Wahrheit«, sagte er lächelnd.
    »Ich liebe dich sehr. Aber manchmal machst du mir Angst.«
    »Du lügst«, erwiderte Ljoscha leise und streichelte ihre Wange. »Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du mich nicht auf der kalten Straße festhalten, während das köstliche Knoblauchhähnchen deines Stiefvaters auf uns wartet. Und der Mensch, der dir Angst einjagen könnte, ist noch nicht geboren auf dieser Welt.«
    * * *
    Nastja lauschte Ljoschas gleichmäßigem Atem. Er schläft, dachte sie. Warum nur verteilt die Natur ihre Gaben so ungerecht? Die einen zählen bis zehn und schlafen sofort ein, die andern, solche wie ich, liegen bis zum Morgengrauen wach und können ohne Schlafmittel kein Auge zutun.
    Sie stand wieder auf, warf sich einen warmen Morgenmantel über und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Obwohl die Heizung auf vollen Touren lief, war es kalt in der Wohnung, weil die Balkontür und die Fenster undicht waren. Es gab niemanden, der das hätte in Ordnung bringen können, und Nastja selbst war zu faul, die klaffenden Ritzen mit Watte oder Schaumstoff zuzustopfen. Sie zündete auf dem Gasherd alle vier Flammen an, und nach einigen Minuten wurde es in der Küche stickig warm.
    Sie ging in Gedanken noch einmal den Abend durch. Ljoscha hatte Recht, man durfte das Verhältnis zu seinen Eltern nicht von ihren Beziehungen zu andern Menschen abhängig machen.

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