Der gestohlene Traum
kommen.
Irgendwann ging Mischa wieder, aber der Praktikant saß immer noch schweigend da und wusste keine Frage zu stellen. Endlich wandte er sich vom Fenster ab.
»Stammt dieser Schauspieler aus der östlichen oder aus der westlichen Hemisphäre?«
Gottlob, es hat sich etwas bewegt, dachte Nastja, die bereits an ihrer Wahl zu zweifeln begonnen hatte, jetzt wird es hoffentlich etwas schneller vorangehen.
Nach anderthalb Stunden qualvollen Nachdenkens hatte Oleg Mestscherinow endlich herausgefunden, dass es sich um Charlie Chaplin handelte.
»Jetzt erhöhen wir den Schwierigkeitsgrad«, sagte Nastja. »Nehmen Sie bitte Papier und Stift und notieren Sie . . .«
Sie beschrieb dem Praktikanten eine weitgehend typische Situation, in der eine Leiche an einem öffentlichen Ort entdeckt wird.
»Gehen Sie wieder nach dem Ausschlussverfahren vor und erstellen Sie eine komplette Liste möglicher Versionen. Beginnen können Sie mit der Frage, ob der Mörder sein Opfer gekannt hat oder nicht. In der Version, in der Sie davon ausgehen, dass er das Opfer nicht gekannt hat, gibt es erneut zwei Möglichkeiten: Handelt es sich um einen Mörder mit eigenem Motiv oder um einen Auftragskiller? Und so weiter. Haben Sie verstanden? Das ist eine Hausaufgabe für Sie. Jetzt fahren wir los und vernehmen diese Leute hier.«
Nastja schob eine lange Liste mit Namen in ihre Handtasche. Es handelte sich um Freunde und Bekannte von Kartaschow, in der Liste waren die Adressen ihrer Privatwohnungen und ihrer Arbeitsplätze verzeichnet. Viele Namen waren mit einem Häkchen versehen, was bedeutete, dass man diese Personen bereits vernommen hatte. Trotzdem blieb noch viel zu tun . . .
* * *
Wassja Kolobow, ein kleiner, unansehnlicher Mann mit schmierigen Gesichtszügen und winzigen, schlauen Augen, beantwortete Nastjas Fragen nur sehr lustlos.
»Wie war das Verhältnis Ihrer Frau Olga zu Viktoria Jeremina und zu deren Freund Boris Kartaschow?«
»Wie soll es schon gewesen sein«, brummte Kolobow. »Normal. Mit Vika stritt sie manchmal, mit Boris offenbar nicht.«
»Und warum stritt sie sich mit Vika?«
»Woher soll ich das wissen? Weiber . . .«
»Hat Olga Ihnen erzählt, dass Vika krank geworden ist?«
»Ja, sie hat so etwas gesagt.«
»Versuchen Sie bitte, sich so genau wie möglich zu erinnern, was sie gesagt hat.«
»Was sie gesagt hat? Das ist schon so lange her, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie meinte, Vika sei nicht mehr ganz dicht im Kopf, irgendwas mit Träumen . . . An mehr erinnere ich mich nicht.«
»Können Sie sich erinnern, wann Sie Vika zum letzten Mal gesehen oder am Telefon gesprochen haben?«
»Das weiß ich auch nicht mehr. Es ist lange her. Es war noch warm draußen, vielleicht war es September oder Anfang Oktober.«
»Warum erinnern Sie sich daran, dass es noch warm war?«
»Weil Vika ein schickes Kostüm getragen hat. Sie ist zu Olga gekommen, ich wollte gerade gehen und bin im Flur mit ihr zusammengestoßen. Sie trug keinen Mantel, sondern nur das Kostüm, also muss es noch warm gewesen sein.«
»Vielleicht hat sie keinen Mantel getragen, weil jemand sie im Auto gebracht hat.«
»Vielleicht«, grunzte Kolobow. »Bei dieser Schlampe ist alles möglich.«
»Warum bezeichnen Sie die Jeremina als Schlampe? Hat Ihnen ihr Lebenswandel missfallen?«
»Was ging mich ihr Lebenswandel an?! Solange sie mir nicht in die Quere kam . . .«
»Ist sie Ihnen in die Quere gekommen?«
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Ich wüsste trotzdem gern, was für ein Verhältnis Sie zu ihr hatten.«
Erneut undeutliches Murmeln und Schulterzucken. Wassja Kolobow war weiß Gott nicht der Zeuge, von dem ein Ermittler träumte. Er war Verkäufer in einem Kiosk auf dem Sawelowskij-Bahnhof, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Er machte dort Schichtarbeit, immer im Turnus von vierundzwanzig Stunden.
»Sagen Sie, ist Vika nie bei Ihnen auf dem Bahnhof gewesen?«
Diese Frage schien Kolobow nicht zu gefallen. Er hörte auf zu grinsen, sein Gesicht verfinsterte sich.
»Was hätte sie dort tun sollen?«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
»Ich habe Sie nicht gefragt, was sie dort hätte tun sollen, ich habe Sie gefragt, ob Sie Viktoria Jeremina jemals auf dem Sawelowskij-Bahnhof gesehen haben. Und wenn Sie sie gesehen haben, dann wüsste ich gern, ob sie allein oder in Begleitung war, ob sie zu Ihnen an den Kiosk gekommen ist und was sie gesagt hat. Haben Sie meine Frage verstanden?«
»Ich habe sie dort nie
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