Der gestohlene Traum
Ich möchte ein Haus haben und Kinder großziehen, sonst nichts. Aber Wassja, dieser Schurke, will keine Kinder.«
»Warum nicht?«
»Wozu sollten die gut sein? Sie machen nur Sorgen. Und wenn ein Kind da wäre, könnte er mich nicht einfach so wieder ins Wohnheim abschieben. Er kennt das Gesetz und will seine Macht über mich nicht verlieren.«
* * *
. . . Was führte die Menschen zusammen? Was ließ sie aneinander festhalten?. . .
* * *
Die Auslage im Bahnhofskiosk bestand aus dem Standardangebot an Spirituosen, Zigaretten, Kaugummi und Präservativen. Der Verkäufer war ein dunkelhaariger junger Bursche von etwa zwanzig Jahren, der einen durchaus freundlichen Eindruck machte. »Kennen Sie Wassja Kolobow?«
»Wassja? Ja, natürlich. Warum?«
»Wissen Sie, dass er vor etwa einem Monat, Anfang November, verprügelt wurde?«
»Er hat nicht darüber gesprochen, aber man hat es gesehen. Der war grün und blau im Gesicht.«
»Wissen Sie, weshalb man ihn verprügelt hat?«
»Er hat nichts gesagt, und ich habe nicht gefragt. Das ist bei uns nicht üblich. Das geht nur die etwas an.«
»Wer sind ›die‹?«
»Als wüssten Sie das nicht! Wassjas Kiosk steht auf jener Seite, meiner auf dieser. Die Seite dort drüben wird von der Butyrki-Gruppe kontrolliert, meine Seite von der Marjinskaja-Gruppe. Ich habe keine Ahnung, was bei denen dort drüben los ist. Wir mischen uns nicht ein.«
»Sie glauben also, es handelte sich um eine Abrechnung?«
»Klar.«
»Sehen Sie sich doch bitte mal dieses Foto an. Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie sieht aber toll aus.«
»Danke, entschuldigen Sie die Störung.«
Der nächste Kiosk.
»Ob ich Wassja kenne? Klar. Wir kennen uns alle hier . . . Ja, ich erinnere mich, dass man ihn verprügelt hat. Es war Anfang November. Warum? Das weiß ich nicht, Wassja hat nichts gesagt. Nein, das Mädchen habe ich nie gesehen . . .«
Noch ein Kiosk und noch einer und noch einer . . . Und das bis zum Abend. Niemand wusste, wer Wassja Kolobow verprügelt hatte und warum. Diejenigen, deren Kioske sich auf der Butyrki-Seite befanden, behaupteten, Wassja hätte sich nichts zuschulden kommen lassen und niemandem Grund für eine Abrechnung geliefert. Doch selbst dann, wenn sie logen und Kolobow die Prügel doch von der Mafia bezogen hatte, so bestand wohl kaum ein Zusammenhang mit dem Mord an Vika Jeremina. Niemand hatte sie auf dem Foto erkannt. Noch ein weiterer Tag war vertan.
Ach, wie gut ich jetzt Larzew gebrauchen könnte, dachte Nastja. Er würde es mit Sicherheit schaffen, diesen Kolobow an der richtigen Stelle zu packen und ihm die Wahrheit aus der Nase zu ziehen. Mit seinem psychologischen Gespür konnte Wolodja sogar eine Sphinx zum Reden bringen. Dieser Fähigkeit bedienten sich zuweilen nicht nur die Mitarbeiter der Abteilung, sondern auch viele Untersuchungsführer, die mit Larzew zusammenarbeiteten. Wie gern hätte Nastja diese Geschichte mit Kolobow aufgeklärt, um sie dann abhaken zu können! Im Grunde war sie überzeugt, dass die Prügelei nichts mit dem Mord an Vika zu tun hatte, aber sie war es gewohnt, alles, was sie anfing, zu Ende zu bringen.
Sie machte einen vorsichtigen Versuch, Gordejew um Larzews Unterstützung zu bitten, doch der Chef runzelte unzufrieden die Stirn.
»Ihr seid sowieso schon zu viert, mit Dozenko sogar fünf. Larzew hat genug anderes zu tun. Seht zu, wie ihr allein zurechtkommt.«
Trotzdem ging Nastja die Geschichte nicht aus dem Kopf. Warum hatte Kolobow plötzlich so angespannt gewirkt, als sie ihn gefragt hatte, ob Vika jemals bei ihm auf dem Bahnhof gewesen war? Oder war ihr das nur so vorgekommen? Auch das konnte natürlich möglich sein. Dennoch investierte Nastja noch einen ganzen Tag, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Zusammen mit Jewgenij Morozow und dem Praktikanten befragte sie sämtliche Angestellten auf dem Bahnhof, die Fahrkartenverkäufer, die Bahnhofspolizei, die Kellnerinnen, die Ärzte in der Sanitätsstelle, die Bauarbeiter, die bereits seit drei Monaten eine riesige Baugrube neben dem Bahnhof aushoben. . . Nichts. Niemand erinnerte sich an Vika. Alles war umsonst gewesen.
* * *
Der ältere Mann, den manche einfach Arsenn nannten, legte den Telefonhörer auf die Gabel, überlegte einige Minuten, dann nahm er den Hörer erneut ab und begann zu wählen. Unter der Nummer meldete sich niemand. Der Mann erhob sich vom Sessel, ging ins Nachbarzimmer, wo sich ebenfalls ein Telefon
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