Der gestohlene Traum
befand, und wählte dieselbe Nummer. Aber auch diesmal ertönten die langen Leerzeichen in der Leitung. Arsenn lächelte zufrieden, zog einen pelzgefütterten, dunkelgrünen Mantel an, schlüpfte in Straßenschuhe mit dicken Sohlen und ging hinaus auf die Straße. Zwei Häuserblocks weiter betrat er eine Telefonzelle, wählte noch einmal und bekam erneut keine Antwort. Er legte auf und ging zur Metro.
Eine halbe Stunde später saß er in einem gemütlichen Cafe und trank Mineralwasser. Ihm gegenüber saß Onkel Kolja vor einem Glas Bier.
»Wir müssen mit dem Jungen noch ein bisschen arbeiten«, sagte Arsenn mit ruhiger Stimme.
»Hat die erste Lektion nicht gefruchtet?«, fragte Onkel Kolja mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Doch, doch, sie hat gefruchtet, mach dir keine Sorgen«, erwiderte Arsenn mit gönnerhaftem Lächeln. »Aber wir müssen auf Nummer Sicher gehen. Es scheint, dass man ihn bald unter Druck setzen wird. Dem müssen wir zuvorkommen und ihn daran erinnern, wer und was er auf dieser sündigen Erde ist.«
»Wir werden ihn daran erinnern«, nickte Onkel Kolja und lächelte sein seltsames Lächeln, das die Goldzähne in seinem Mund aufblinken ließ.
* * *
Der Mann, den heute viele unter dem Namen Arsenn kannten, hatte in seiner Kindheit den ganz einfachen Namen Mitja getragen. Er war ein ernster, nachdenklicher Junge, der gut in der Schule war und viel las. Seit früher Kindheit verfolgte ihn eine unerklärliche Angst um seine körperliche Unversehrtheit. Er hatte schreckliche Angst vor Schmerzen und Verletzungen, deshalb hielt er sich von der Straße fern, er ging nie hinaus, um mit den anderen Fußball, Revolution oder wilde Kosaken zu spielen, sondern saß lieber zu Hause, spielte mit sich selbst Schach oder dachte seine kleinen Kindergedanken.
Seine Kindheit fiel in eine Zeit, als alle Jungen noch davon träumten, berühmte Helden und Pioniere zu werden, Polarforscher, Seefahrer oder legendäre Piloten. Auch Mitja bildete da keine Ausnahme. Aber man erklärte ihm, dass er aufgrund seiner Schwächlichkeit, seiner Unsportlichkeit und seiner schlechten Augen keine Aussicht auf eine heroische Zukunft hätte. Mitja grämte sich deswegen nicht allzu lange, denn sein Gehirn hatte einen neuen Impuls bekommen und stellte ihn vor neue Fragen. Welche Berufe passten zu welchen Menschen? Ein Lastenträger musste stark sein. Ein Lehrer musste Geduld haben. Ein Pilot durfte keine Höhenangst haben . . . Die Frage beschäftigte Mitja so stark, dass er begann, psychologische Fachbücher zu lesen, von denen es zur damaligen Zeit noch nicht allzu viele gab. Man kannte ihn bald in fast allen Bibliotheken der Stadt, den kleinen, schmächtigen, bebrillten Jungen, der stundenlang in einer Ecke des Lesesaales hinter irgendeiner seltenen Buchausgabe saß.
Die Jahre vergingen, und als Mitja in der Personalabteilung des KGB zu arbeiten begann, hielt er sich für einen Experten in Sachen Berufswahl. Seine Nachdenklichkeit und sein Verantwortungsbewusstsein schlugen sich auch in seinem Berufsalltag nieder. Er unterhielt sich immer lange mit den Bewerbern und gab ihnen sogar zu verstehen, in welcher Abteilung des KGB sie nach seiner Meinung ihre Fähigkeiten und Begabungen am besten entfalten konnten. Er war überzeugt davon, eine wichtige und notwendige Aufgabe zu erfüllen, indem er einer so gewichtigen Organisation wie dem KGB beim richtigen Einsatz der Kader half und auf diese Weise wenigstens einen indirekten Beitrag zur Sicherheit seiner Heimat leistete.
Eines Tages kam ein junger Mitarbeiter des Moskauer Sicherheitsdienstes zu ihm, der gerade in den Auslandsdienst des Hauptapparates übernommen wurde. Gewohnheitsmäßig begann Mitja ihm zu erklären, mit welchen Besonderheiten ein Arbeitsaufenthalt im Ausland verbunden war. Er unterstrich die Notwendigkeit, sich in seinem Verhalten der Kultur und den Traditionen des Gastlandes anzupassen, ganz besonders im Alltagsleben. Alle Botschaftsräume würden vom feindlichen Geheimdienst abgehört, man warte nur auf die passende Gelegenheit, um einen Sowjetbürger anzuwerben.
Der neue Kandidat für den Auslandsdienst hörte zerstreut zu und gab seinem Gesprächspartner zu verstehen, dass er sich seine Ratschläge sparen könne. Er wisse selbst Bescheid, er hätte seinen Dienst in Moskau immer bestens versehen und würde sich auch im Ausland keine Blöße geben.
Mitja war völlig klar, dass dieser junge, zweifellos sehr fähige Mann, obwohl er fließend zwei Fremdsprachen
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