Der gestohlene Traum
Warten Sie . . . Ja, jetzt weiß ich es wieder. Sie hat behauptet, dass ihr jemand ihren Traum stiehlt und ihn dann im Radio erzählt. So war es.«
»Und was geschah weiter?«
»Valentin hat sich sofort mit Maslennikow in Verbindung gesetzt und einen Termin für Kartaschow gemacht. Ich erinnere mich, dass Maslennikow gesagt hat, er würde in den nächsten zwei Tagen sehr beschäftigt sein, deshalb könne er Valentins Bekannten erst am Freitag empfangen.«
»Am Freitag? Haben Sie zufällig einen Kalender zur Hand?«
»Hier, bitte.«
Kosarjs Witwe entnahm dem Notizbuch, das vor ihr lag, einen kleinen Kalender. Darin war Freitag, der fünfzehnte Oktober, mit einem Kringel versehen.
»Können Sie sich erinnern, um welchen Freitag es sich handelte? Um den fünfzehnten Oktober oder um ein späteres Datum, vielleicht um den zweiundzwanzigsten?«
»Ich glaube, es war der fünfzehnte.« Sie warf einen Blick in den Kalender. »Ja, genau. Sehen Sie, das Datum ist angestrichen.«
»Und was bedeutet das?«
»Es war Valentins Kalender, er hat ihn ständig benutzt und die Daten in verschiedenen Farben angestrichen. Geburtstage, private Termine, Verabredungen und so weiter. Wenn er etwas zu erledigen hatte, das einen anderen betraf, hat er immer einen einfachen Bleistift benutzt, wie hier, im Fall Kartaschow. Wissen Sie, Valentin hatte immer Angst, etwas zu vergessen oder durcheinander zu bringen.«
Die Frau war drauf und dran, wieder in Tränen auszubrechen, aber sie beherrschte sich.
»Gehörte dieses Notizbuch Ihrem Mann?«
»Ja.«
»Darf ich es für kurze Zeit mitnehmen? Ich verspreche Ihnen, dass sie es zurückbekommen.«
»Nehmen Sie es mit, wenn es sein muss.«
»Bitte erlauben Sie mir noch eine Frage. Waren Sie immer über die Angelegenheiten Ihres Mannes informiert?«
»Natürlich. Wir hatten eine sehr gute Beziehung.«
»Hatte er viele Freunde?«
»Müssen Sie mich denn auch noch mit solchen Fragen quälen? Welche Bedeutung hat das jetzt? Sie werden doch nicht etwa annehmen, dass einer seiner Freunde ihn überfahren hat? Im Übrigen haben Sie gesagt, dass Sie für den Verkehrsunfall nicht zuständig sind.«
»Sagen Sie mir doch bitte trotzdem, ob er Freunde hatte, denen er sich mitgeteilt hat.«
»Valentin hat sich allen mitgeteilt. Er war ein so offener, kommunikativer Mensch.«
»Heißt das, dass er nicht nur Ihnen von Kartaschow und seiner erkrankten Freundin erzählt hat?«
»Er hat praktisch jedem davon erzählt, mit dem er an diesem Tag gesprochen hat. Sogar seiner Mutter. Er hat sie angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und dann hat er gesagt: ›Mama, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Krankheiten es auf der Welt gibt. Mich hat heute ein Bekannter angerufen .. .‹ Und so weiter. Die Geschichte hat aus irgendeinem Grund großen Eindruck auf ihn gemacht, er hat sich noch oft daran erinnert.«
»Hat Valentin Petrowitsch Ihnen nichts von Kartaschow erzählt?«
»Nein.«
»Daran erinnern Sie sich genau?«
»Sie können sich sicher sein, dass ich ein gutes Gedächtnis habe. Ich erinnere mich an alles, was Valentin angeht. Nach seinem Tod bin ich die letzten Monate genau durchgegangen, jeden Tag, jede Stunde, so, als hätte ich ihn auf diese Weise ins Leben zurückholen können. Mir schien, wenn ich mich an alles erinnere, an alles bis zur letzten Einzelheit, dann würde er wiederkommen.«
* * *
Der beigefarbene Wolga bog von der Kiewskaja-Chaussee ab und fuhr in Richtung Matwejewskoje. Vor dem Gebäude des Alten-und Behindertenheimes hielt er an, und dem Wagen entstieg ein korpulenter Mann mit einnehmenden, edlen Gesichtszügen. Er betrat entschiedenen Schrittes die Halle, fuhr mit dem Lift in die dritte Etage, ging über den Korridor und öffnete schließlich, ohne anzuklopfen, eine der Türen.
»Guten Tag, Vater.«
Vom Kopfkissen blickten ihn zwei trübe, tränende Augen an, in denen ein schwaches Lächeln aufschimmerte. Die greisenhaften Lippen des Mannes zuckten.
»Söhnchen . . . Du warst schon lange nicht mehr da.«
»Entschuldige, Vater.« Der Mann schob sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Ich hatte zu tun. Ich war den ganzen Monat unterwegs und habe Wahlveranstaltungen abgehalten. Du weißt doch, in ein paar Tagen finden die Wahlen zur Duma statt. Wie fühlst du dich?«
»Schlecht, mein Sohn. Du siehst doch, ich liege und kann fast gar nicht mehr aufstehen. Ich wollte, du würdest mich hier rausholen, damit ich nicht in diesem fremden Bett
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