Der gestohlene Traum
kategorisch, er sei verprügelt worden, denn als er an diesem Tag nach Hause gekommen war, habe er sich auf dem Bett zusammengekrümmt und immer wieder gemurmelt: Diese Schweine. Diese Hundesöhne. Alle hatten sie versucht, den starrsinnigen Kolobow weich zu klopfen, aber ohne jeden Erfolg. Sie hatten nur wieder Zeit verloren. Allerdings war etwas dabei aufgefallen. Je hartnäckiger Wassja die Sache mit der Prügelei bestritt, desto empfindlicher reagierte er, wenn er auf Vika angesprochen wurde. Schließlich beschloss man zu überprüfen, ob der für Frauen so zugängliche Verkäufer von Importzigaretten nicht vielleicht ein Verhältnis mit Vika gehabt hatte, von dem niemand etwas wusste. Vielleicht lag der Fall ja viel einfacher als angenommen, vielleicht war Vika aus Eifersucht umgebracht worden. Als Version war das immerhin denkbar. Und in diesem Fall konnte der von dem Band verschwundene Anruf von Vika gestammt haben, die Kartaschow mitgeteilt hatte, dass sie mit Wassja verreiste. In Anbetracht dessen, was man bisher über den Charakter des Mädchens in Erfahrung gebracht hatte, konnte es durchaus sein, dass es ihr nichts ausgemacht hätte, ihren Freund davon in Kenntnis zu setzen. Nach dem Mord an Vika, den in dieser Version Kolobow begeht, beschließen Boris und Olga, den Mörder zu decken. Zumal Vikas Tod einige Probleme löst. Der schwache Boris muss nun nicht mehr über eine Trennung von Vika nachdenken, und Olga eröffnet sich die Chance, die Frau des Künstlers zu werden und ein normales Familienleben mit Kindern zu führen. Die gelöschte Nachricht auf dem Band fügte sich widerspruchslos in diese Gleichung ein. Aber was war mit Kolobows Prügelei? Vielleicht tat sie ja gar nichts zur Sache. Vielleicht hatte das mit dem Mord an Vika überhaupt nichts zu tun, und Nastja vertat nur erneut ihre Zeit, wenn sie hier nach einem Zusammenhang suchte.
»Waren Sie schon einmal in Rom?«
Nastja vernahm eine angenehme männliche Stimme, die Englisch mit starkem Akzent sprach. Sie wandte ihren Kopf nach rechts, zu dem jungen Mann in dem weißen Pullover, der auf der anderen Seite des Ganges saß. Er blickte lächelnd auf den Michelin-Reiseführer auf Nastjas Knien. Diesen Reiseführer hatte Nadeschda Rostislawowna vor vielen Jahren von ihrer ersten Reise nach Italien mitgebracht.
Dem Akzent des Mannes nach zu urteilen, war er Italiener. Nastja widerstand mit Mühe der Versuchung, ihm auf Englisch zu antworten. Worauf soll ich warten?, dachte sie. Ich werde sowieso Italienisch sprechen müssen, und am besten fange ich gleich damit an. Englisch und Französisch sprach sie oft und fühlte sich deshalb in beiden Sprachen sicher, aber das Italienische, das sie als Kind dank der Beharrlichkeit ihrer Mutter ganz gut beherrscht hatte, lag, wie sie es selbst ausdrückte, verstaubt in einer abgelegenen Schublade, und Nastja hatte ein wenig Angst davor, es jetzt hervorzuholen. Dennoch entschloss sie sich dazu.
»Sie können Italienisch mit mir sprechen«, sagte sie, gegen die Hemmung ankämpfend und um gute Aussprache bemüht. »Nur bitte langsam.«
Der junge Mann lächelte verständnisvoll und ging, ganz offensichtlich erfreut, auf seine Muttersprache über. Sie unterhielten sich eine gute Viertelstunde, bis der Delegationsleiter Jakimow mit einer Zigarette in der Hand in der Raucherzone erschien. Er ließ sich im Sitz vor Nastja nieder, schnalzte mit dem Feuerzeug, blies den Rauch aus und wandte sich zu Nastja um.
»Sonderst du dich vom Kollektiv ab, Kamenskaja?«, fragte er scherzhaft. »Und einen Verehrer hast du also auch schon gefunden. Mach mir nur keine dummen Sachen!«
Jakimow gefiel Nastja. Er hatte nichts Autoritäres an sich und sah nie auf die herab, die, im Gegensatz zu ihm selbst, zum ersten Mal ins Ausland reisten und nicht wussten, wie sie sich benehmen und was sie sagen sollten. Er war immer bereit, seine Erfahrung mit anderen zu teilen, beantwortete ausgiebig alle Fragen und gab sehr wertvolle Ratschläge, die Nastja, die bereits einmal in Schweden gewesen war, um ihre Mutter zu besuchen, für richtig und angebracht hielt.
»Wie wird unser Programm in dieser Woche aussehen?«
»Von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends werden sich die italienischen Kollegen uns widmen, danach können wir uns allein vergnügen. Der Mittwoch und der Samstag stehen uns zur freien Verfügung, du kannst die italienischen Geschäfte stürmen, wenn dir danach ist. Was willst du konkret wissen?«
»Ich möchte mich mit
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