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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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sie für das Geld, das sie besaß, sowieso nichts von Bedeutung kaufen konnte, sodass ihr Verzicht nicht viel Sinn hatte. Von da an ließ sie sich immer wieder mit großem Vergnügen direkt auf der Straße an einem der Tische nieder, die zu den vielen Straßencafes gehörten. Trotz des Stadtplans in ihrer Jackentasche verlief sie sich gegen Abend, ging endlose Zeit an einer Mauer entlang und stellte schließlich fest, dass sie an diesem Tag einfach nur den Vatikan umrundet hatte.
    * * *
    Als sie am Donnerstag durch die Kolonnaden beim Petersdom ging, erblickte sie schon von weitem ihre Mutter. Nadeschda Rostislawowna, eine schöne, schlanke und Schwindel erregend elegante Frau, unterhielt sich angeregt mit einem hoch gewachsenen, grauhaarigen Mann und blickte sich dabei ständig nach allen Seiten um.
    Mutter und Tochter umarmten und küssten sich.
    »Darf ich vorstellen . . .«, sagte Nadeschda Rostislawowna auf Englisch. »Das ist meine Tochter Anastasija. Und das ist mein Kollege Professor Kühn.«
    »Ich bin Dirk«, berichtigte der Professor und drückte Nastja die Hand.
    Das ist ja entzückend, Mama, dachte Nastja. Du hast also deinen Liebhaber mitgebracht. Ist dir das nicht peinlich? Wer wird hier eigentlich wem vorgeführt, er mir oder ich ihm? Aber sie ist wirklich eine atemberaubende Schönheit. Wie kommt es nur, dass aus mir eine so graue Maus geworden ist?
    Der grauhaarige Dirk hatte ein jungenhaftes Gesicht und fröhliche gelbgrüne Augen. Er sprach ein wenig Russisch, Nastja konnte sich radebrechend auf Schwedisch verständigen, und die Unterhaltung, die sie zu dritt führten, geriet zu einem höchst originellen sprachlichen Mischmasch.
    Sie verbrachten den Abend in einem Restaurant, in das der sympathische Professor, der in Rom jeden Winkel kannte, sie geführt hatte. Sie saßen dort bis in die späte Nacht, und Nastja konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so viel gelacht hatte. Sie fühlte sich wohl mit ihrer Mutter und deren Freund, ihre Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet, sie empfand nicht die geringste Anspannung, nichts von den Hemmungen, die sie bei dem Treffen mit ihrem Stiefvater und dessen Freundin hatte überwinden müssen. Ihre Mutter war glücklich, Dirks Augen waren voller Liebe und Bewunderung für sie. Was konnte falsch daran sein, wenn es allen gut ging?
    »Morgen gehen wir in die Oper, ich habe Karten besorgt«, sagte Nadeschda Rostislawowna zum Abschied. »Und am Samstag schauen wir uns die Sixtinische Kapelle an.«
    »Ich freue mich, dass Nadeschda eine so wunderbare Tochter hat«, sagte Dirk Kühn mit einem berückenden Lächeln.
    Nastja kehrte heiter und zufrieden in ihr Hotel zurück. Die Sorgen, die sie sich seit Monaten um den Zusammenhalt der Familie gemacht hatte, erschienen ihr jetzt überflüssig und unbegründet. Die Menschen hatten ein Recht darauf, glücklich zu sein, zumal dann, wenn sie dadurch niemandem Schaden zufügten.
    Hätte Nastja Kamenskaja gewusst, wie drastisch ihr Leben sich in ganzen drei Tagen verändern würde, hätte sie geahnt, wie fern und unwirklich ihr »italienischer Urlaub« ihr in der ihr bevorstehenden Angst und nervlichen Anspannung erscheinen würde, hätte sie wahrscheinlich versucht, der Freude und inneren Ruhe, die in der Ewigen Stadt in sie eingekehrt waren, einen tieferen und festeren Halt in sich zu geben. Doch wie alle glücklichen Menschen wiegte auch Nastja sich in der trügerischen Sicherheit, dass es nun für immer so bleiben würde. Aber sie täuschte sich.
    * * *
    Am Samstag, nach der Besichtigung der Sixtinischen Kapelle, schlug die Mutter einen Besuch auf der Buchmesse vor.
    »Ich brauche ein paar Bücher für Freunde und für mich selbst. Lass uns zusammen fahren, es wird dich auch interessieren.«
    In der Messehalle trennten sie sich. Die Mutter ging mit Dirk die von ihr benötigten Bücher suchen, Nastja blieb vor den Ständen zurück, über denen in riesigen Lettern »Europäische Bestseller« stand. Sie betrachtete die bunten Einbände und las Klappentexte, innerlich resümierend, was sie lesen würde, wenn sie Zeit hätte, und welche Art von Literatur ihr nicht lag. Sie wechselte zum nächsten Stand und glaubte plötzlich, der Boden würde ihr unter den Füßen wegsacken. Direkt vor ihren Augen stand ein Buch mit dem Titel »Todessonate«. Der Autor war ein Jean-Paul Brisac. Auf dem Hochglanzeinband waren fünf blutrote Notenlinien zu sehen, die von einem hellgrünen Violinschlüssel durchkreuzt

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