Der gestohlene Traum
zugestimmt, den die Kamenskaja ihm vorgelegt hatte, aber nicht etwa deshalb, weil er diesen Plan für den Gipfel der Weisheit hielt, sondern weil ihm auch nichts Besseres einfiel. Der Plan enthielt ganz offensichtliche Unwägbarkeiten und Schwachstellen, Anastasija wusste das selbst, aber da war nichts, womit sie die Löcher hätten stopfen können, weil sie in diesem Fall mit einem Minimum an Mitarbeitern auskommen mussten. Es gab schon zu viele Informationslecks im Fall Jeremina, und dagegen konnten sie nur eines unternehmen: Sie mussten den Kreis der Eingeweihten so klein wie möglich halten.
Viktor Alexejewitsch sah voller Trauer, wie alles, was er in langen Jahren so beharrlich und liebevoll aufgebaut hatte, zusammenbrach. Das Kollektiv, in dem es keine Allroundprofis gab, dafür aber hoch qualifizierte, begabte Fachleute, von denen jeder über besondere Fähigkeiten verfügte, und alle diese Talente dienten in ihrem Zusammenspiel der gemeinsamen Sache. Hätte man jetzt zum Beispiel Wolodja Larzew einschalten können, hätte er mit Sicherheit eine Methode gefunden, Wassja Kolobow zum Sprechen zu bringen und ihm die Wahrheit über die Prügelei zu entlocken, über die er sich so beharrlich ausschwieg. Hätte Anastasija jetzt ihre übliche Auswertungsarbeit machen und sich die Zeit zum Nachdenken nehmen können, wäre sie mit Sicherheit auf einige kluge, raffinierte Ideen gekommen. Und der charmante, kontaktfreudige Korotkow hätte zusammen mit Lesnikow, dem strengen, attraktiven Intellektuellen, ein überzeugendes, brillantes Szenario entwickelt, das ihnen eine Flut von Informationen eingebracht hätte. Nur war das alles eben nicht mehr möglich. Jedenfalls vorläufig nicht.
Gordejew wusste bereits, wer von seinen Mitarbeitern der Gegenseite zuarbeitete, aber etwas hinderte ihn daran, dem qualvollen Zustand ein Ende zu setzen. Und das lag nicht nur an seinem Mitgefühl und an seinem Schmerz. Viktor Alexejewitsch wurde das Gefühl nicht los, dass alles nicht so einfach war, wie es aussah, dass hinter dem Verrat eines Einzelnen noch mehr stand. Etwas, das komplizierter und gefährlicher war, als es schien.
An dem Plan der Kamenskaja war noch etwas, das ihn beunruhigte. Er verlangte von seinen Mitarbeitern stets, dass sie sich in ihrer Arbeit streng an das hielten, was das Gesetz vorschrieb. Wenn er ganz ehrlich war, konnte er nicht behaupten, dass sein Rechtsempfinden gegen die nicht immer ganz korrekten Methoden protestierte, die operative Mitarbeiter mitunter zur Aufklärung von Verbrechen anwandten. Seit Gordejew bei der Kripo arbeitete, und das tat er bereits seit über dreißig Jahren, gehörte das zur alltäglichen Praxis der Aufklärungsarbeit. Doch Gordejew wusste aus Erfahrung, dass die ungestrafte Anwendung unerlaubter Methoden zunehmend negative Auswirkungen auf die Professionalität und Kreativität der Kripobeamten hatte. Wozu sollte man sich die Mühe machen, das Funktionsprinzip von Schlössern und Schlüsseln zu studieren, wenn man eine Tür einfach aufbrechen konnte? Und ihm war schon Vorjahren klar geworden, dass man sich in Zukunft auf Anwälte würde einstellen müssen, die bereits im Moment der Festnahme zum Verdächtigen zugelassen waren, und ebenso auf unbestechliche Staatsanwälte und Richter, die sich allmählich von ihrer Rolle als Erfüllungsgehilfen der Statistik befreiten und ihre Angst vor den Repressalien der Partei verloren. Diese Entwicklung hatte Gordejew schon sehr früh vorausgesehen, schon ganz zu Beginn des Demokratisierungsprozesses, und er hatte mit größter Geduld und Sorgfalt ein Team zusammengestellt, das lernen musste, unter den neuen Verhältnissen zu arbeiten. Ein Team, das ein für alle Mal begreifen musste, dass das Gesetz heilig und unantastbar war. Es musste sein professionelles Potenzial entwickeln und neue, zeitgemäße Methoden zur Aufklärung von Verbrechen erarbeiten. Es durfte und musste alles für die Arbeit einsetzen, die Psychologie, die Topographie, die physischen Kräfte, den Intellekt und was immer noch. Nur musste alles streng im Rahmen des Gesetzes bleiben.
Nastjas Plan enthielt nichts, was gegen das Gesetz verstieß. Aber Viktor Alexejewitsch hatte den Verdacht, dass sie ihm nicht alles gesagt hatte. Er wusste, dass sie ihn niemals hintergehen oder anlügen würde, aber sie hatte es faustdick hinter den Ohren . . .
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Nastja vertilgte mit Genuss das von Ljoscha zubereitete Abendessen. Sollte sie ihn vielleicht doch endlich heiraten? Er
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