Der gestohlene Traum
musst entscheiden. Niemand wird sich wundern, wenn du sagst, dass sowohl die Nachforschungen über Brisac als auch die Recherchen im Archiv nichts erbracht haben und du deshalb die Ermittlungen wegen Aussichtslosigkeit einstellst. Knüppelchen vertraut dir, Olschanskij vertraut dir, Tschernyschew vertraut dir, auch wenn er meutert, weil du ihm nicht alles erzählst, aber die Führungsrolle überlässt er dir trotzdem. Morozow? Der wird nur glücklich sein, wenn du ihn in Ruhe lässt. Der Praktikant? Der spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Er wird sich an das halten, was man ihm sagt. Was also tun, Kamenskaja? Zurückweichen oder noch ein wenig dranbleiben?
Nastja richtete sich auf dem Sofa auf und stellte ihre Füße auf den kalten Fußboden.
»Kyrill«, rief sie leise.
Sofort wurde ein dumpfes Geräusch hörbar, das leise Klicken von Hundepfoten auf dem Parkett im Flur. Kyrill kam ins Zimmer getrottet und ließ sich mit einem fragenden Blick neben Nastja nieder.
»Kyrill, ich habe Angst«, sagte Nastja, wieder ganz leise und so, als könnte der Hund sie wirklich verstehen. Vielleicht hatte sie damit gar nicht Unrecht, denn Kyrill war in der Tat ein außergewöhnliches Tier. Andrej hatte sich seine Eltern genau ausgesucht und geduldig darauf gewartet, dass die beiden Schäferhunde, die über einzigartige Fähigkeiten in Bezug auf Gehör, Spürsinn und Auffassungsgabe verfügten, ihm den erwünschten Nachkommen schenkten. Er ließ Kyrill, der laut Stammbaum einen langen und schier unaussprechlichen Namen hatte, beste Pflege angedeihen, richtete ihn mit großer Ausdauer ab und erreichte, dass der Hund, wenn er jenseits der üblichen Befehle auch keine Worte verstehen konnte, es doch lernte, dem Klang der Stimme zu entnehmen, was man ihm sagte. Und die Liste der Befehle, die er aufs Wort erfüllte, war im Übrigen so lang, dass man zu glauben geneigt war, er könne die Sprache der Menschen womöglich doch verstehen.
»Ich habe Angst, Kyrill«, wiederholte Nastja etwas lauter.
Der Hund wurde nervös, aus seinem leicht geöffneten Rachen drang ein leises Knurren, in seinen Augen blitzte ein ungutes gelbes Feuer auf. Er versteht, dass ich Angst habe, dachte Nastja.
»Was soll ich tun?«, sagte sie, bemüht um Festigkeit in ihrer Stimme. »Soll ich vielleicht alles hinschmeißen? Was meinst du, Kyrill? Mein Leonid hat trotz seiner siebenundfünfzig Jahre natürlich noch Mumm in den Knochen, zum Glück ist er bei bester Gesundheit, er treibt Sport und hat fünfundzwanzig Jahre bei der Kripo gearbeitet, so leicht ist er nicht kleinzukriegen. Aber ich liebe ihn, ich fühle mich ihm tief verbunden, er hat mir den Vater ersetzt. Habe ich denn das Recht, ein Risiko einzugehen?«
Sie knipste das Deckenlicht im Zimmer an und begann, langsam auf und ab zu gehen, mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten in den Pantoffeln. Kyrill saß bewegungslos da, wie eine Statue, und beobachtete sie.
»Außerdem ist da noch Ljoscha«, fuhr sie fort, »ein begabter Mathematiker, aber ein richtiger Tollpatsch, zerstreut, schrecklich naiv und gutgläubig. Es ist eine Kleinigkeit, ihn auszutricksen und in die Falle zu locken. Ljoscha ist mir ebenfalls sehr kostbar, ich kenne ihn seit der Schule, er war mein erster Mann, ich hätte fast ein Kind von ihm geboren. Vielleicht liebe ich Ljoscha nicht mit der leidenschaftlichen Liebe, von der in Romanen die Rede ist, aber ich bin zu so einer Liebe wahrscheinlich einfach nicht fähig. Ich liebe ihn so, wie ich es kann. Er hat zwar eine Vorliebe für vollbusige, dunkelhaarige Frauen, und manchmal ist er untreu, aber so etwas dauert bei ihm zwischen zwei Stunden und zwei Tagen, und dann kommt er zu mir zurück, weil es uns nur miteinander wirklich gut geht. Und schließlich muss ich zugeben, dass ich auch andere Männer gehabt habe, in einen war ich sogar unsterblich verliebt. Aber Ljoscha blieb mir trotzdem immer der nächste und liebste Mensch. Im Übrigen würde mich ein anderer nie so liebevoll betreuen und pflegen wie er, wenn ich krank bin.
Und du musst wissen, Kyrill, dass ich manchmal ziemlich krank bin. Ich habe eine Rückenverletzung, und wenn ich schwer hebe, hat das böse Folgen für mich. Ich muss mich dann auf den Fußboden legen, weil ich die weiche Matratze nicht mehr vertrage, ich liege da und habe das Gefühl, sterben zu müssen. Und Ljoscha gibt mir Spritzen, er kocht für mich, hilft mir aufzustehen und erfüllt alle Funktionen einer Krankenschwester. An diesen
Weitere Kostenlose Bücher