Der gestohlene Traum
Tagen wohnt er bei mir, obwohl er in Shukowskij lebt und arbeitet und zweieinhalb Stunden bis zu meiner Wohnung unterwegs ist. Aber er hat sich noch nie beklagt und es nie abgelehnt, mir zu helfen. Was meinst du, habe ich das Recht, ihn einer Gefahr auszusetzen?«
Das gemäßigte Auf-und-ab-Gehen und die zunehmende Sicherheit in der eigenen Stimme beruhigten Nastja. Das Zittern hatte sich gelegt, ihr war sogar etwas warm geworden. Sie sah Kyrill aufmerksam an und stellte fest, dass auch er viel ruhiger geworden war. Das ist gut, dachte sie befriedigt. Das heißt, dass es mir tatsächlich gelungen ist, mich wieder zu fassen, und Kyrill fühlt das.
Nastja wagte es, ihren Aktionsradius zu erweitern, und ging in die Küche. Der Hund folgte ihr sofort, er ließ sich auf der Türschwelle nieder und erstarrte wieder zu einer Statue.
Um drei Uhr nachts war es ihr endlich gelungen, etwas zu essen und einen starken, frisch gebrühten Kaffee zu trinken. Gegen vier wurde sie so mutig, dass sie sich eine Viertelstunde lang unter die heiße Dusche stellte. Gegen sechs Uhr morgens nahm sie die beschriebenen, mit rätselhaften Zeichen bedeckten Blätter vom Tisch, zerriss sie in kleine Fetzen und warf sie in den Mülleimer. Kyrill lag friedlich zu ihren Füßen, mit der Schnauze auf ihren weichen Pantoffeln, als wollte er sagen: Ich spüre, dass du jetzt ganz ruhig bist, du riechst nicht mehr nach Angst. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen, sondern kann beruhigt neben dir liegen.
Nastja warf einen Blick auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde Tschernyschew kommen. Sie ging zum Spiegel und zwinkerte ihrem eigenen Spiegelbild zu. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte.
ACHTES KAPITEL
Wassja Kolobow öffnete ungeduldig das Kuvert und entnahm ihm einen maschinengeschriebenen Brief.
»Du redest zu viel. Offenbar hast du ein schlechtes Gedächtnis, Kolobow. Wenn du nicht möchtest, dass dir dasselbe noch einmal passiert, komme morgen, am dreiundzwanzigsten Dezember, um halb zwölf Uhr abends zu der dir bekannten Adresse. Solltest du auf die Idee kommen, Kontakt zur Miliz aufzunehmen, wirst du es bereuen.«
Kolobow steckte den Brief zögernd in seine Hosentasche und fuhr mit dem Lift hinauf in seine Wohnung. Wieder waren sie hinter ihm her! Sollte er den Brief einfach ignorieren? Nein, er musste hingehen. Die Prügel, die er bezogen hatte, waren nicht von schlechten Eltern gewesen, und eine Wiederholung konnte er sich nicht wünschen.
* * *
Oberst Gordejew ließ Selujanow in sein Büro kommen.
»Kolja, ich suche ein stilles, dunkles Plätzchen in der Gegend des Saweljewskij-Bahnhofs.«
Kolja Selujanow hatte sich einst ganz plötzlich und aus völlig unerklärlichen Gründen entschlossen, Kripobeamter zu werden. Er hatte immer, schon seit seiner Kindheit, davon geträumt, Städtebauer zu werden. Endlos brütete er Ideen zur baulichen Neugestaltung Moskaus aus, damit alle Bewohner es bequem haben und zu ihrem Recht kommen sollten. Die Fußgänger, die Autofahrer, die Kinder, die Rentner, die Hausfrauen . . . Er kannte die Stadt wie seine eigene Wohnung, jeden Winkel, jeden Hinterhof, jede Kreuzung, auf der sich in den Stoßzeiten Staus bildeten. Diese detaillierten Stadtkenntnisse waren sehr nützlich für die Arbeit bei der Kripo, und nicht nur Selujanow selbst bediente sich ihrer, sondern auch alle seine Kollegen.
Kolja dachte einen Moment nach, dann nahm er ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber und begann, etwas aufzuzeichnen.
»Hier ist eine gute Stelle«, sagte er und markierte einen Punkt auf seiner Zeichnung. »Wenn man langsam geht, sind das etwa zehn Minuten Fußweg bis zum Bahnhof. Hier befindet sich ein Torbogen und dahinter ein dunkler Hof. In dem Haus wohnt niemand, es wird zurzeit renoviert. Und dann hier noch . . .« Selujanow markierte eine weitere Stelle. »Hier ist es ebenfalls ruhig und menschenleer, besonders nachts. Fünf Meter hinter dem Zeitungskiosk geht es nach links, und gleich dahinter befinden sich drei Verkaufspavillons. Sie stehen sehr günstig, von vorn sieht es so aus, als würden sie eine geschlossene Front bilden, aber von hinten erkennt man, dass da eine Lücke ist. Nachts sind diese Pavillons geschlossen. Reicht es, oder brauchen Sie noch mehr?«
»Noch ein paar mehr, für alle Fälle«, bat Gordejew.
Nachdem Selujanow wieder gegangen war, drehte der Oberst das Blatt mit den vier Zeichnungen in seiner Hand und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte zwar dem Plan
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